Schlechte Gesellschaft
Zeitpunkt nicht ausmachen, wann die Gegend aufgehört hatte, für ihn das gewohnte Terrain der Kindheit zu sein. Die Brüder und er hatten jeden Tag in diesem Wald gespielt, rund um das Sehlscheider Freibad herum, im Nonnenley und weiter weg an der Hünnericher Mühle. In gröÃeren Runden erzählte er gerne die Geschichte von seinem Klassenkameraden Günter. Kurz nach dem Krieg hatte Vahlen als kleiner Junge in einem der Gräben einen glitzernden Stein gefunden. Noch bevor er ihn einstecken konnte, hatte Günter ihm den Stein zu entreiÃen versucht. Seine Brüder, die hinzugekommen waren, hatten Vahlen zuerst in Schutz genommen. Aber als Günter, der allein mit seiner Mutter aus dem Osten gekommen war, zu heulen begann, drängten sie Vahlen, nachzugeben. »Was willst du mit dem Stein?«, fragten sie. »Etwa eine Mineraliensammlung anfangen?« Sie lachten, und schlieÃlich hatte Vahlen dem Jungen den Stein vor die FüÃe geworfen und war über den Umweg durch die Teufelsstiege nach Hause gerannt.
Am nächsten Tag erfuhren sie, dass Günter mit schweren Phosphorverbrennungen im Arlicher Krankenhaus lag. Der Stein hatte sich beim Trocknen in seiner Hosentasche entzündet und sich bis auf den Knochen in sein Bein gebrannt. Wochenlang kämpfte Günter um sein Leben. Bald darauf war er mit seiner Mutter wieder aus Sehlscheid weggegangen. Aber Vahlen erinnerte sich noch immer mit dem gleichen angenehmen Schaudern an das Gefühl, dem Unglück knapp entronnen zu sein.
Hella behauptete jedes Mal, sie verstünde nicht, wie er sein Glück an Günters Leiden messen konnte. Als glaube er, der Junge wäre vom Schicksal für seine Gier bestraft worden, sagte sie. AuÃerdem könne niemand wissen, wo im Wald überall noch Phosphorbomben und Blindgänger herumlagen.
Viel später, da wohnten sie schon in ihrem Haus im Aulbachtal, war Vahlen einmal lange um eine ihm unbekannte Schlucht herumgeirrt. Zunehmend erschöpft hatte er schon befürchtet, die Nacht im Wald verbringen zu müssen. Doch dann war er durch Zufall auf einen Pfad gestoÃen, der ihn noch in der Dämmerungnach Hause brachte. Auch als Kind hatte Vahlen sich manchmal verlaufen. Und vielleicht, dachte er jetzt, hatte Hella recht. Vielleicht war ihm der Wald nie wirklich vertraut gewesen.
Er war nun auf knapp hundert Meter herangekommen. Noch immer bewegte sich das Ding nicht, wirkte aus der Ferne aber dennoch lebendig. Ein Pferd? Eine Kuh? Plötzlich musste Vahlen lachen: Was für ein Bild: Eine kniende Kuh, mitten auf der StraÃe. Ihr Hinterteil ragte in einer geradezu grotesken Pose auf. Eine heilige Kuh. Vahlen konnte sich schon am nächsten Morgen davon erzählen hören. Hella hatte seine Tiergeschichten immer geliebt.
Als das Licht der Scheinwerfer sie traf, warf die Kuh ihren Kopf herum. Erst jetzt begriff Vahlen, dass sie nicht anders konnte als zu knien. Er sah den panischen Blick in den groÃen, dunklen Augen, die gebrochenen Vorderbeine abgeknickt auf der mit Flecken und Schlieren beschmutzten Fahrbahn. Mit heftigem Halsrucken versuchte das Tier vergeblich, den schweren Leib zu bewegen.
Weiter weg am Waldrand sah Vahlen den Transporter liegen. Tiefe Furchen waren in die Böschung gerissen. Mehr Vieh lag am Boden. Die Räder des Lastwagens hingen in der Luft. Stroh und Mist und unkenntliche schwarze Masse verteilten sich über die aufgeworfene Grasnarbe.
Vahlen bremste und legte den Rückwärtsgang ein.
Sehlscheider Polka (Mai 1930)
In Marthas Kopf drehte und drehte es sich. Noch als die Polka längst begonnen hatte, schien der Dreitakt des Walzers in ihren Ohren nachzuhallen. Sie schaute am flatternden Stoff ihres Kleides herab und musste gleich wieder zu Nesselhahn hochblicken, sonst wäre ihr übel geworden. Sein Atem roch nach Zigarre.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Martha nickte und wandte den Blick ab. Sie hatte schon vieleHochzeiten im Brinkschen Tanzsaal erlebt. Aber dass sie heute selbst die Braut sein sollte, die schönste von allen, konnte sie kaum glauben.
Es war ihr immer recht gewesen, dass die Männer aus Sehlscheid ihre Nähe gemieden hatten. Seit ihrem Unglück galt sie als hochmütig, bestenfalls als verbittert. Mehr als einmal hatten sich Kurgäste um sie bemüht. Aber erst als niemand im Dorf mehr daran glaubte, dass sie einen von ihnen erhören würde, war Richard von Nesselhahn
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