Schlechte Gesellschaft
wirkte ein wenig wild, aber sie war hübsch und auch nicht dumm. Sie lebte bei ihrem GroÃvater, dem Kolonialwarenhändler Kehl und dessen Sohn.
Der junge Kehl, der nach dem Abzug der Amerikaner für den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund Jugendwanderungen organisiert hatte, führte nun unter wechselndem Banner seine eigenen Gruppen durch den Wald. Und wer den Jungbauern oder dem Sportverein angehörte, statt Kehls Werwolf, dem Jungstahlhelm oder schlieÃlich der Hitlerjugend beizutreten, achtete darauf, ihm und seinen Hunden nicht im Dunkeln zu begegnen. Mehrfach hatte Martha beobachtet, wie Kehl seine Nichte an den Zöpfen nach Hause zerrte, wenn er sie mit den Mädchen auf dem Burplatz erwischte.
»Du musst aufpassen. Der junge Kehl wird dich windelweich schlagen, wenn er dich mit Ilse sieht.«
»Er hat mich schon gesehen. Gar nichts hat er mir getan. Ilse ist ihm egal. Er ist ja nur der Onkel.«
»Und ich bin nur die Tante. Trotzdem sage ich dir, du solltest aufpassen. Du bist viel zu jung zum Küssen. Oder zu alt, um es einfach so zu tun. Das kann böse Folgen haben.«
»Ach, ja? Welche denn, Tantchen?« Er grinste sie an.
Martha wurde rot. Sie mochte es nicht, wenn Hagis sie so nannte.
»WeiÃt du, was der junge Kehl heute zu mir gesagt hat?«, fragte er weiter, und beobachtete sie dabei genau.
»âºDeine Tante-Rühr-mich-nicht-an findet wohl auch nicht mehr unter die Haube, was Heinrichâ¹, hat er gesagt. Er nennt mich Heinrich.«
»Das ist der Name, auf den du getauft bist.«
»Niemand nennt mich so. AuÃer Kehl.«
»Hör nicht auf ihn.«
»Und?«
»Was und?«
»Bist du eine Tante-Rühr-mich-nicht-an? Hat Kehl es mal versucht bei dir?«
»Ich sag doch, hör nicht auf ihn. Kehl ist ein Hund. AuÃer den Kötern will ihm niemand zu nahe kommen. Das weiÃt du doch.«
»Er tat so.«
»Er tat was?«
»Er tat so, als habe er um deine Hand angehalten.«
Martha presste die Lippen zusammen. »Ganz bestimmt nicht.«
»Warum hast du denn nie geheiratet?«
»Wen sollte ich hier heiraten, deiner Meinung nach? Ich komme sehr gut allein zurecht.«
Hagis war ihr näher gekommen. »Ich bin also zu jung zum Küssen? Und gleichzeitig zu alt?«
Warm und feucht streifte sein Atem ihr Gesicht. Hagis legte die Arme um ihren Hals. Sie wollte sich losmachen.
»Du hast recht, du bist viel zu schön. Niemand hier könnte dein Mann werden.«
»Hagis!«
Er blickte sie wieder so merkwürdig an und kam noch näher. Gleich würden ihre Köpfe sich berühren. Sie schloss die Augen, wollte sich wehren, hielt aber doch still. Dann spürte sie seinen Mund auf ihrem, fühlte die weichen, kindlichen Lippen. Die Arme weiterhin um ihren Hals geschlungen, lehnte Hagis sich zurück, sah Martha an und begann laut zu lachen. Mit rotem Kopfmachte sie sich frei, und Hagis stürmte, noch immer lachend, aus der Küche.
In der folgenden Nacht lag Martha wach. Wie so oft dachte sie darüber nach, wie ihr Leben in Sehlscheid verlaufen war und wie es hätte verlaufen können. Aber zum ersten Mal seit langem überlegte sie auch, was aus ihr werden könnte. Und als sie am Morgen ihre Kammer verlieÃ, hatte sie den Entschluss gefasst zu heiraten.
Bei ihrer nächsten Umdrehung wollte Martha wieder zu Hagis herüberschauen, doch er war verschwunden. Sie spürte Nesselhahns Hand an ihrer Hüfte und kicherte beim Gedanken daran, wie er sie gestern sein »Westerwälder Himmelsschlüssel« genannt hatte. Nesselhahn war kein schöner Mann. Seine Nase wirkte etwas zu klein in dem ovalen Gesicht, und obwohl er erst dreiÃig war, hatte er bereits einen Bauch. Es war seine Zuversicht, die selbstsichere Art, die Martha überzeugt hatte, dass er der Mann sei, der sie aus Sehlscheid fortbringen würde.
Sie tanzte und wollte nie wieder aufhören. Die Gesichter der Gäste verschwammen vor ihren Augen. Nesselhahns Schwung riss sie mit sich fort. Die vom Zigarrenrauch bräunlich gewordenen Wände des Brinkschen Tanzsaals schienen sich aufzulösen, und mit ihnen eine Welt, die Martha zu lange verschlossen geblieben war, um ihr jetzt noch wichtig zu sein.
Erst als sie Hagis erneut bemerkte, seine dunkle Gestalt am Rand der Tanzfläche, überkam sie das Gefühl, innehalten zu müssen. Der Gesichtsausdruck ihres Neffen hatte sich
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