Schlechte Gesellschaft
gekommen.
Der junge Doktor der Philologie hatte das verlängerte Pfingstwochenende mit zwei Studienkollegen in Sehlscheid verbracht. Tagsüber waren die Freunde den Völkerwiesenbach entlang gewandert, bis hinunter ins Aulbachtal, und am Nachmittag spielten sie Tennis auf den Plätzen am Hahn. Schon am zweiten Abend luden sie Martha zu einem gemischten Doppel ein. Die Wahl zwischen den jungen Herren fiel ihr nicht schwer.
Von all den Sommergästen aus Hamburg und München, der Schweiz, England und sogar Amerika hatte Martha sich ausgerechnet einen Sohn des bekannten Koblenzer Chemiefabrikanten Nesselhahn ausgesucht. Und auch wenn der junge von Nesselhahn mit Salpeter und Kunstfaser seines Vaters nichts zu tun haben wollte, erinnerte die Verbindung die Dorfbewohner unweigerlich an die Geschichte der alten Irma Vahlen.
Kein halbes Jahr später wurde in Koblenz die Verlobung gefeiert. Für das Hochzeitsfest aber hatte Martha sich den Saal des prächtigen Brinkschen Kurgasthofs gewünscht, für den sie selbst jahrelang die Küche geführt hatte.
Sie suchte Hagis, sah aber nur Kläre und Irma am Rand der Tanzfläche stehen. Neben den feinen Herrschaften, die aus Koblenz, Arlich und Köln angereist waren, wirkten die Witwen von der Hüh wie traurige Schwestern. Martha hatte ihnen Krefelder-Samt geschickt, aus dem Kläre zwei Kleider genäht hatte. An Brust und Taille eng geschnitten, fielen sie glockenartig bis zu den Fesseln. Aber während Irma darin ungewohnt hager aussah mit ihrem langen,gekrümmten Rücken, wirkte die so viel jüngere Kläre dicklich und alt.
Marthas eigenes Kleid aus silberweiÃer Seide hatte für Aufruhr gesorgt, als das Brautpaar morgens vor den Gästen und Schaulustigen aus der Kirche getreten war. Es schmiegte sich locker um ihre Hüften, reichte kaum bis zu den Waden und war tief ausgeschnitten. Martha hatte das Gefühl, sich noch niemals, nicht einmal in ihrer frühesten Kindheit so frei gefühlt zu haben.
Jetzt entdeckte sie Hagis. Er lehnte an der Rückwand des Saales, die Hände in den Taschen, das Haar zurückgekämmt. Mit seinen dunklen Augen schien er jede ihrer Bewegungen zu beobachten, ohne sie direkt anzusehen. Oder blickte er zum Bräutigam? Hagis hatte Nesselhahn immer mit übertriebener Höflichkeit behandelt, hinter der sich unübersehbar Eifersucht versteckte. Martha ahnte, was er an ihrem Verlobten nicht mochte, sein weltmännisches Auftreten, seine Ausdrucksweise, an der man sofort die feine Herkunft erkannte. Sie war nur erstaunt darüber, wie wichtig Hagis diese Dinge nahm.
Wann immer sie ihn ansah, sein vertrautes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den leicht abstehenden Ohren, der geraden Nase, spürte sie, wie seine Lippen ihren Mund berührten. Dabei war es schon ein Jahr her, dass er sie geküsst hatte.
Hagis war nach der Schule häufig zu ihr in die Küche gekommen und hatte ihr Gesellschaft geleistet, während sie für die Gäste im Hotel das Abendessen zubereitete. Er lachte mit ihr über die Jungen im Dorf, denen er Streiche spielte, über die Mädchen, die dümmlich kicherten, wenn er mit ihnen zu sprechen versuchte, und über die GroÃmutter Irma mit ihrem Geschimpfe, das kaum noch jemand verstand. Martha genoss seine Geschichten. Auch wenn Hagisâ scharfer Verstand und der Humor, mit dem er die Eigenarten der Dorfbewohner kommentierte, sie vor allem daran erinnerten, dass die Sehlscheider ihm â wie auch ihr selbst â mit unabänderlichem Misstrauen begegneten.
Im vorigen Frühjahr hatte Hagis sich plötzlich verändert. Mittenim Gespräch blickte er sie unverwandt an, so dass Martha erschauerte. Zuerst dachte sie, er habe etwas über seine wahre Herkunft herausgefunden, von der ihm niemand in der Familie je erzählt hatte. Dann glaubte sie, es wäre ihre Nähe zu ihm, das enge Verhältnis, das sich manchmal zu einer unerträglichen Spannung steigerte. Aber schlieÃlich sagte sie sich, dass Hagis ein Heranwachsender war, und sie selbst erinnerte sich noch gut an die Unsicherheit und den Kummer, die sie in diesem Alter begleitet hatten.
»Ich war heute bei Ilse«, hatte er an jenem Ostermontag vor über einem Jahr gesagt. Und Martha hatte gleich gemerkt, dass Hagis das nicht ohne Grund erzählte. Mehrmals hatte er ihr schon von seinen Versuchen berichtet, das Mädchen zu küssen. Ilse Kleinmann
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