Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
absolute Extremwerte– nach oben wie nach unten– immer eine besondere Situation und Gefährdung darstellen können. Aber davon sind nur sehr wenige Patienten betroffen. Ein sinnvoller Einsatz von Cholesterinsenkern dürfte sich insgesamt nur auf einen Bruchteil all der Patienten beschränken, denen sie heute verschrieben werden. Die anderen bekommen nur die Nebenwirkungen zu spüren.
Und diese sind heftig. Nach 50Jahren Cholesterinsenkung und einem Milliardengeschäft kommt nun langsam heraus, was man damit angerichtet hat. In einer groß angelegten Studie, die unterVerwendung der Patientendaten von Hausärzten in England undWales zustande kam, wurden die Daten von 2Millionen Patienten von 2002 bis 2008 gesammelt. 200 000 derTeilnehmer bekamen innerhalb des Beobachtungszeitraums erstmalig Statine verordnet. Dabei zeigte sich, dass diese Patienten ein erhöhtes Risiko für Muskelerkrankungen, Grauen Star, tödliches Nierenversagen und Leberfunktionsstörung aufwiesen, aber auch ein niedrigeres Risiko für Ösophaguskrebs [Speiseröhrenkrebs] zeigten. Damit ist ein ursächlicher Zusammenhang noch nicht bewiesen, aber da eine Dosiserhöhung auch die Nebenwirkungen verstärkte und sich die Nebenwirkungen 1 bis 3Jahre nach Absetzen von Statin normalisierten, liegt derVerdacht nahe, dass das Medikament die Schuld trägt.Wie viele dieser Patienten Statine unnötig verordnet bekommen, kann man nur mutmaßen. Die Autoren der Studie empfehlen jedenfalls, die Dosierung deutlich zu reduzieren. Übrigens kam diese Studie vor allem deshalb zustande, weil man andere Einsatzgebiete von Cholesterinsenkern überprüfen wollte.Viele positiveWirkungen, die man Statinen vorschnell zuschrieb, haben sich nicht bestätigt, so beispielsweise bei Rheuma oder Altersdemenz. Einzig Speiseröhrenkrebs trat messbar weniger auf unter Einfluss der Medikamente, schreiben die Autoren.
Doch auch das stimmt nicht, wie ich bei genauerer Lektüre der Studie erschüttert feststellen musste. Die absoluten Zahlen, die dankenswerterweise aufgeführt sind– eine Seltenheit, die jedem die direkte Überprüfung der Risikowerte ermöglicht–, zeigen, dass das Speiseröhrenkrebsrisiko unter Einnahme von Cholesterinsenkern nicht sank, sondern sogar stieg. Im Beobachtungszeitraum erkrankten von 1 777 463Patienten, die keine Statine einnahmen, 1515 an Speiseröhrenkrebs, also 0,085Prozent.Von 225 830Patienten, die in dieser Zeit Statine neu verordnet bekamen, erkrankten 294, also 0,130Prozent.Vergleichen wir diese Prozentzahlen, können wir also eine absolute Steigerung des Risikos von 0,045Prozent (relative Steigerung von 53Prozent) in der Statin-Gruppe erkennen und eben keine Absenkung. Das bedeutet, dass in der Gruppe von Patienten, die erstmals Statine einnahmen, wahrscheinlich 102Personen in einem Beobachtungszeitraum von 6Jahren an Speiseröhrenkrebs aufgrund der Statine erkankten.Wem kann man eigentlich in diesemTollhaus namens medizinischeWissenschaft noch glauben, ohne selbst nachzurechnen?
Versuchen wir nun eine Schätzung darüber vorzunehmen, wie viele Menschen in Deutschland bei der Einnahme von Statinen mit Nebenwirkungen zu rechnen haben. Ich nehme dafür die absoluten Zahlen aus der englischen Studie und übertrage sie auf Deutschland. Unter statistischen Gesichtspunkten ist ein solchesVorgehen nicht ganz korrekt, denn bei solchen Zahlenmengen müsste bedacht werden, dass in Deutschland andere Einflüsse gelten könnten als in England. Da aber noch niemand eine solche Schätzung für Deutschland vorgenommen hat, behelfen wir uns mit diesemVergleich.
Wenn wir also die Zahlen von England auf 3,7Millionen Bundesbürger, die täglich Statine einnehmen, bezogen auf ein Jahr übertragen, schätze ich folgende Erkrankungszahlen durch Statine, die zu den bereits bestehenden Fällen hinzukommen. Diese Zahlen beziehen sich also auf zusätzliche Erkrankungen pro Jahr:
279Fälle von Speiseröhrenkrebs
1357Fälle von schwerer Muskelerkrankung
1406Fälle von akutem Nierenversagen
2881Fälle von schwerer Leberfunktionsstörung
19 401Fälle von Grauem Star (Katarakt)
Wie oft kam es vor, dass ich in der Sprechstunde Muskelbeschwerden eines Patienten auf Statine zurückführen konnte, weil die Beschwerden erst dann einsetzten, als er begann, Statine einzunehmen.Wenn keine schwerwiegenden Gründe vorliegen, die dagegen sprechen, rate ich in solch einem Fall dazu, die Medikamente abzusetzen, was zumeist dann auch die Muskelbeschwerden verschwinden lässt.
Weitere Kostenlose Bücher