Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
war, Essen lange zu kochen undWeißmehl zu produzieren, bekomme ich eine Ahnung davon, wie sich die Menschen des Mittelalters gefühlt haben müssen, die an Glaubensätzen rüttelten.
Zunächst klingtWeltanschauung wie das Gegenteil vonWissenschaft. Die Aufgabe derWissenschaft besteht ja gerade darin, eine Sichtweise zu hinterfragen. Der daraus entstehende produktive Streit führt zu Erkenntnisgewinn und neuen Problemlösungen. So weit dieTheorie. InWirklichkeit durchziehen dieWissenschaften genauso viele Glaubenssätze wie Dogmen die Religionen. Und das muss erstaunlicherweise zunächst gar nicht schlimm sein, vielleicht ist es sogar notwendig, wie der amerikanischeWissenschaftsphilosophThomas S. Kuhn meinte. Ihm zufolge entwickelt sichWissenschaft nicht kontinuierlich durch ständiges sachliches Abwägen neuer und alter Forschungsergebnisse, sondern sprunghaft. So gesehen braucht dieWissenschaft sogar Glaubenssätze, denn die Möglichkeiten der Natur sind zu groß, um einfach ins Blaue hinein zu forschen. Man muss beispielsweise an die Existenz von Atomen glauben, obwohl sie kein Mensch sehen kann, um chemische Forschung betreiben zu können. Kuhn unterscheidet die wissenschaftlicheWirklichkeit in 2 sich abwechselnde Phasen, die Normalwissenschaft und die Revolution.
Normalwissenschaft
Der Glaubenssatz gibt die Regeln vor, anhand derer dann Lösungen für Probleme gesucht werden. Zum Beispiel stellt man sich Elektrizität alsTeilchenfluss vor, und alle Probleme, die in der Elektrizität gelöst werden sollen, werden im Rahmen dieses Glaubenssatzes erforscht. Das bedeutet, alle Anstrengungen konzentrieren sich darauf, diese Glaubenssätze zu bestätigen und an ihnen zu feilen. Dadurch werden Lösungen und Methoden innerhalb des Glaubenssatzes immer mehr verfeinert und Fortschritte erzielt.
Ohne solche Glaubenssätze wäre die Forschung in weitenTeilen zu konfus, um praktische Lösungen entwickeln zu können und anVerbesserungen zu feilen. Auf der anderen Seite sorgen Glaubenssätze dafür, dass sie nicht infrage gestellt werden dürfen.Wer dies tut, setzt sich demVerdacht aus, minderwertig geforscht zu haben, denn sonst hätte er ja eine Lösung innerhalb der herrschendenWeltanschauung finden müssen. Glaubenssätze in derWissenschaft machen also durchaus Sinn, aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Und den gilt es zu definieren.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten denVerdacht, dass derVerzehr von Fett zu Herzkrankheiten führt. Sie führen Forschungen durch, die in Ihren Augen dieseThese festigen, und Sie machen damit Karriere. Sie werden Direktor eines Universitätsinstituts, werden zu Kongressen eingeladen, Politiker suchen Ihren Rat bei der Umsetzung nationaler Gesundheitsprogramme. Kurz, Sie haben sich zum Meinungsführer in Ihrem Fachgebiet entwickelt und genießen diese Position. Zudem betreuen Sie an Ihrem Institut junge Nachwuchsforscher. EinesTages kommt eine talentierte Forscherin mit ihren Forschungsergebnissen zu Ihnen. Sie hat deutliche Hinweise darauf gefunden, dass Fett völlig ungefährlich ist. Zunächst ist es nachvollziehbar, sie zu bitten, die Daten noch einmal nachzurechnen.Vielleicht tun Sie es selbst und müssen feststellen, dass die Berechnungen der jungen Kollegin Hand und Fuß haben.Was tun Sie? Der jungen Frau gratulieren und sie zum nächsten Kongress mitnehmen, um sie stolz als neuesTalent zu präsentieren? Das würden Sie vielleicht tun, aber in derWissenschaft läuft das Spiel anders. Dort fürchtet man vielmehr um seine Position und seinen Einfluss.
Je mehrWissenschaftler sich auf eine bestimmteWeltanschauung einlassen, desto mehr wächst auch die Angst. Man weiß nicht, was passieren würde, wenn eine neueWeltsicht sich durchsetzte.Was würde von den bislang geltenden Erklärungsmustern, die man beherrscht, übrig bleiben? Und was würde aus der lange erkämpften Position in der Fachwelt und den damit verbundenen persönlichen Netzwerken?Wäre man überhaupt in der Lage, einen solchenWechsel mitzumachen, oder würde man ganz schnell ins Hintertreffen geraten? Man wird also die junge Forscherin mit Nachdruck bitten, die Daten nochmals nachzurechnen, doch bitte diesmal genauer. Und zwar so lange und so genau, bis die Ergebnisse wieder die bestehenden Glaubenssätze stützen. Untersuchungsgruppen werden neu gefasst, Messwerte neu zusammengerechnet, dieWerte, die nicht stimmen dürfen, werden weggelassen, und irgendwann passt das Ergebnis. In kurzer Zeit wird die
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