Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
Nachwuchsforscherin verstanden haben, dass ihr dieVeröffentlichung ihrer Daten mit der klaren Aussage, die Lehrmeinung des Chefs ist falsch, einen gehörigen Karriereknick verpassen würde. Manch eine von ihnen versucht dann, in der Überschrift und in der Zusammenfassung die Daten so darzustellen, als würden sie die Lehrmeinung belegen, und im Kleingedruckten bringt sie doch ihr akademisches Gewissen unter. Dies fällt meist niemandem auf, und man kann später, falls derWind sich dreht, darauf verweisen, man habe es damals schon bemerkt. So wird die Position des Chefs gestärkt, und die Karriere der Nachwuchsforscherin ist nicht gefährdet. Alle sind zufrieden. Und so entstehen diese komischenVerrenkungen in den Studien, dieser seltsameWissenschaftsmurks, den wir in Kapitel»Schlechte Medizin« ausführlich analysiert haben.
Revolution
Doch irgendwann lassen sich offene Fragen mit den alten Glaubenssätzen nicht mehr beantworten, egal wie intensiv und aufwendig man daran forscht. Der Glaubenssatz selbst steht einer Lösung imWeg.Wenn man zum Beispiel ständig beobachtet, dass man von einem sich nähernden Schiff stets zuerst die Mastspitze und dann erst den Schiffsbauch sieht, dann lässt sich das mit dem Glaubenssatz Erde-ist-flache-Scheibe einfach nicht erklären.Wenn in Semmelweis’ Geburtskliniken reihenweise all die Frauen sterben, die von Ärzten untersucht wurden und nicht von Hebammen, dann wird eine Erklärung mit dem Glaubenssatz Arzt-ist-unfehlbarer-Halbgott nicht gefunden werden. Immer dann also, wenn es nicht mehr zu verschweigen ist, dass man neueWege suchen muss, beginnt eine Art Unruhe in derWissenschaftswelt.
Dann werden wieder Grundsätze diskutiert und aus neuen Erkenntnissen neue Glaubenssätze entwickelt und durchgesetzt. Allerdings nicht ohne Gegenwehr, wie es schon Max Planck, einer der berühmtesten Wissenschaftler, vor 100 Jahren in dem Zitat ausdrückte, das diesem Buchteil voransteht. Die Langfassung lautet: » Eine neue wissenschaftlicheWahrheit pflegt sich nicht in derWeise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit derWahrheit vertraut gemacht ist. « Heute würde man vielleicht nicht von » Aussterben « sprechen, sondern davon, dass die entsprechenden Meinungsführer an den Universitäten in Pension gegangen sind. Dann trauen sich die Andersdenkenden aus den Schützengräben heraus, wechseln die Fahnen und stürmen die Festung der altenWeltanschauung. Nicht umsonst hatThomas Kuhn dafür den Begriff »Revolution« gewählt. Haben sich dann alle in der Festung der neuen Lehrmeinung gemütlich eingerichtet, geht das Spiel von vorne los.
Vielleicht muss man also Glaubenssätze undWeltanschauungen alsTeil derWissenschaft akzeptieren. Auch führt ein gewisser Zwang, zunächst an einem Glaubenssatz festzuhalten, manchmal zu wertvollen Ergebnissen. Doch die entscheidende Frage ist, wie weit man zu gehen bereit ist, um seine Glaubenssätze zu verteidigen.Vor allem dann, wenn es sachlich nichts mehr zu verteidigen gibt, man persönlich aber viel zu verlieren hat. Oder wenn manWeltanschauung mitWahrheit verwechselt und sich deshalb das Recht herausnimmt, jede andere Meinung erbittert zu unterdrücken, wie es in der Menschheitsgeschichte in Politik und Religion mehrfach der Fall war. Ab wann geht es nur noch um Machterhalt?Wird dann der Regelbruch, dieTrickserei, der Betrug zum Normalfall in der wissenschaftlichen Arbeit? Kann dann auch in derWissenschaft eineWeltanschauung zur unerbittlichen Ideologie ausarten, die mit allen legalen und illegalen Mittel verteidigt wird? Und die über Leichen geht?
Seit der Framingham-Studie haben sich folgende Glaubenssätze in der Medizin durchgesetzt:
Zivilisationserkrankungen werden durch äußere Risikofaktoren verursacht.
Diese Risikofaktoren sind: erhöhtes Cholesterin, ungesundes Essen, zu wenig Bewegung und Übergewicht.
Risikofaktoren sind messbar durch Abweichung von Normwerten.
Bei jedem Menschen lässt sich anhand dieser Abweichung sein individueller Gefährdungsgrad beziffern.
Um sich vor Zivilisationskrankheiten zu schützen, müssen bei Abweichungen wieder Normwerte angestrebt werden durch Änderung des Lebensstils und Medikamente. Auch wenn keine Krankheitssymptome vorliegen.
Jeder Mensch reagiert auf gleicheWeise aufTherapien, die zum Ziel haben, den Normwert
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