kuschelte mich mit angezogenen Beinen in meinen Sessel. Trostsuchend umarmte ich mich selbst. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir wenigstens kurz einbilden, ich würde Vio umarmen. Doch natürlich war diese Illusion nach drei Sekunden verpufft. Seufzend vergrub ich die Hände in den Jackentaschen. Links knisterte es und meine Finger fühlten Papier. Ich zog einen zerknitterten Zettel heraus.
Vios vertraute Handschrift sprang mir entgegen – die Buchstaben verschnörkelt und nach rechts geneigt, als wollten sie ungestüm nach vorne eilen, genau wie Vio. Ich spürte ein Ziehen im Magen, wie wenn man in der Achterbahn nach unten rast: So viel war noch von Vio da, vertraut, so wie immer. Und doch lauerte die Gewissheit im Hintergrund: Sie war nicht mehr da.
Ich atmete tief durch und betrachtete den Zettel. »viosvz« stand darauf und dann ein Mix aus insgesamt sechzehn Zahlen und Buchstaben. Ich drehte den Zettel ratlos in meiner Hand. War das eine verschlüsselte Nachricht? Sah aus wie ein Code. Von einer Bank? Hatte Vio doch was von ihrem Konto abheben wollen? Aber sie konnte nur ein paar Euro gehabt haben, chronisch blank, wie sie immer gewesen war.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Erpressung. Hatte Vio jemanden erpresst und war deswegen getötet worden? Gleich darauf rief ich mich samt meiner davongaloppierenden Fantasie zur Ordnung. Wen sollte Vio schon erpressen – dafür war sie mit ihrer gnadenlosen Ehrlichkeit gar nicht der Typ. Trotzdem hatte sich die Neugierde festgesetzt und nagte an mir wie die Maus am Käse.
Hastig ging ich an meinen Computer – das Uralt-Teil meines Vaters, das ich vor einem Jahr für Referate und Schularbeiten bekommen hatte, als er sich ein schickes Notebook zulegte. Es dauerte ewig, bis das Ding hochfuhr. Probeweise gab ich »svz« und die ersten vier Zahlen in die Suchmaschine ein. Sofort tauchte »Für Ihre Suchanfrage wurden keine Ergebnisse gefunden« auf. Ich ließ die Zahlen weg und jetzt erhielt ich als Suchergebnis »Schützenvereins-Zeitung«. Das konnte Vio wohl nicht gemeint haben. Doch ein Link drunter klang plausibel: »schülerVZ – bist du schon dabei?« Ich drückte auf »Anmelden«. Doch bereits hier war für mich Ende: Um sich einzuloggen, musste man von einem bereits aktiven schülerVZ-Mitglied eingeladen werden. Wahrscheinlich war die Buchstaben-Zahlen-Kombination Vios Code gewesen. Natürlich versuchte ich es damit, doch der Code war bereits deaktiviert. Alsohatte Vio sich bereits eingeloggt, denn mit der Erstanmeldung verfiel der Code, so viel wusste sogar ein kompletter Web-Anfänger wie ich.
Und da fielen mir die Worte der Kommissarin wieder ein. Ihre betont beiläufige Frage, ob ich wüsste, wo Vio ihren Laptop aufbewahrte. Weil die Polizei ihn nicht gefunden hatte. Das hieß, er war verschwunden.
Konnte das bedeuten, dass Vios Tod etwas mit ihren Webaktivitäten zu tun hatte? Diese Vermutung war vielleicht weit hergeholt, aber ich konnte mir in Vios Umfeld niemanden vorstellen, der sie töten wollte. Außer es war jemand, den ich nicht kannte. Weil Vio ihn mir verschwiegen hatte. Ich hatte sie immer mit ihren Internetgeschichten aufgezogen, ohne zu wissen, wo sie chattete und wen sie dort kennengelernt hatte. Es hatte mich nicht interessiert.
Bis jetzt.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: freundschaft
liebe vio,
wie wir zuletzt auseinandergegangen sind, kann ich nicht mehr rückgängig machen.
und dass wir gestritten haben und ich zum schluss genauso wütend auf dich war, wie du auf mich, kann ich auch nicht mehr gutmachen.
aber ich will versuchen, dir einen letzten freundschaftsdienst zu erweisen: ich werde herausfinden, wer dich getötet hat.
deine lila
4. Kapitel
»Lila, bitte, ich weiß doch nicht, was ich sonst damit machen soll!« Vios Mutter stand mit hängenden Armen vor mir und sah mich hilflos an. Um ihre Augen lagen tiefe, dunkle Schatten, ihr Gesicht war seit Vios Tod spitz geworden. Zwei Tage nach der Beerdigung war ich zu ihr gegangen, um Vios Jacke vorbeizubringen. Ich wäre mir schäbig vorgekommen, einfach etwas von Vio zu behalten. Ihre Mutter wollte aber die Jacke nicht annehmen. Im Gegenteil: Ich sollte mir von Vios Sachen aussuchen, was mir gefiele, »Viktoria hätte es so gewollt«, versicherte mir ihre Mutter.
Ich konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen. Vielleicht würden die Erinnerungen an Vio mir das Gefühl geben, ihr nahe zu sein. Und ich könnte mir vorstellen,