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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Vio nach der Schulparty hingegangen ist, okay? Ich weiß nicht, ob sie jemanden getroffen hat. Und dass sie auf der Fete eine Zeit lang mit Till Knauer zusammenstand, haben Sie sicher schon gehört. Wieso fragen Sie nicht den?!«
    Ich hatte das alles zu hastig hervorgestoßen. Jetzt ging mir die Luft aus wie einem Blasebalg. Aufgewühlt brach ich ab und rang nach Atem.
    Die Kommissarin blieb ungerührt: »Till Knauer hat ein Alibi. Er hat das Fest vor Viktoria zusammen mit drei Mitschülern verlassen und war die ganze Nacht und am nächsten Tag zu Hause. Das nur zu Ihrer Information. Und ich ›schnüffle‹ nicht in Ihrer Privatsphäre. Ich versuche, denjenigen zu finden, der Viktoria getötet hat. Befragungen sind Teil unserer Ermittlungsarbeit.«
    Mit ihrem Polizeifachchinesisch konnte sie mich aber nicht beeindrucken. Ich blieb bei meiner Aussage, nichts zu wissen. Ich stand nicht unter Verdacht, also zog ich meine Jacke an und ging.

    »Und nun spricht der Herr: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen: Du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen. Und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Weil du in meinen Augen herrlich bist und weil ich dich lieb habe. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir.«
    Der Pfarrer machte eine kurze Pause und ließ den Blick über die schwarz gekleideten Gottesdienstbesucher schweifen. Die kleine Kirche war bis auf die letzte Bank besetzt.
    Vios Eltern, ihre Großeltern und die »Hamburger Oma«, wie Vio sie immer genannt hatte, saßen in der ersten Reihe. Dahinter ich mit meiner Mutter, die angeboten hatte, mich zu begleiten, und jetzt stumm meine Hand drückte. Meine Mitschüler, Lehrer und Vios Bekannte hatten sich auf die übrigen Plätze verteilt. Sogar Grover tauchte auf, auch wenn ich ihn fast nicht erkannt hätte, denn beim Reinkommen hatte er seinen blauen Schopf artig unter einer schwarzen Mütze verborgen. Schade, dass er sie in der Kirche abnehmen musste, denn damit hatte er überraschend anders ausgesehen. Anders, aber nicht schlecht.
    »Human«, hätte Vio wahrscheinlich gewitzelt, wenn sie da gewesen wäre. Falsch, sie war ja da, aber eben nicht sprühend vor Lebenslust an meiner Seite, sondern starr und leblos in einem schlichten nussbraunen Sarg, dessen geschlossener Deckel mit einem Gesteck aus weißen Lilien geschmückt war.
    Nie würde ich den Duft dieser Blumen vergessen, und nie wieder würde ich ihn riechen können, ohne an Vio denken zu müssen, wie sie da lag – so fremd und schon so fern von allem, was Leben war.
    »Lasset uns beten. Vater unser, der du bist im Himmel …«, begann der Pfarrer und die Trauergemeinde stimmte ein. Nur ich schwieg, denn wenn ich den Mund nur für ein einziges Wort geöffnet hätte, wäre es mit meiner Beherrschung vorbei gewesen.
    Allein der Gedanke, dass Vio beerdigt werden würde, hatte mich die vergangenen Nächte kaum schlafen lassen. Ich ging auch nicht zur Schule. Meine Mutter verpasstemir schließlich auf Anraten unseres Hausarztes ein leichtes Beruhigungsmittel. Genauso gut hätten sie mir Fruchtbonbons geben können. Jede Nacht lag ich wach und starrte in die Finsternis. Ich wollte nicht einschlafen, denn dann kamen die Träume. Es waren keine schönen Träume, in denen Vio im überirdisch weißen, wehenden Kleid über eine paradiesische Blumenwiese lief und mir versicherte, dass es ihr gut ging. In meinen Träumen saß Vio weinend unter einem Schlehenbaum und fragte mich immer wieder, warum ich ihr nicht geholfen hatte. Wenn ich hochschreckte, war mein Kissen nass von Tränen. Aber es waren meine eigenen.
    »… sondern erlöse uns von dem Bösen, Amen.« Ich spürte, wie sich bei diesen Worten eine hilflose Wut in mir breitmachte. Von welchem Bösen sollte Vio jetzt bitte schön noch erlöst werden? Dieses »Böse« hatte doch überhaupt erst dazu geführt, dass Vio und ich jetzt nicht auf unserem Hochstand saßen und zusammen lachten, sondern dass eine Kirche voller Menschen um sie weinte. Wo war denn der liebe Gott, als der Mörder Vio zu fassen bekam? Hat er ihr in diesem Augenblick vielleicht geholfen?
    Am liebsten hätte ich diese Fragen laut herausgeschrien, doch da erklang die Orgel. Liederbücher raschelten, dann stimmte der Pfarrer an: »So nimm denn meine Hände und führe mich. Bis an mein selig Ende und ewiglich.«
    Jetzt richtete sich

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