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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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mein Zorn gegen ihn. Was für ein dämliches Lied war das denn?! »Selig Ende?« Glaubte der da vorne tatsächlich, Vios Ende wäre nicht schrecklich gewesen?
    Zum Glück hatte das Lied nur drei relativ kurze Strophen und danach verließen wir die Kirche. Doch das Schlimmste stand noch bevor: auf dem Friedhof, wo einHaufen frisch aufgeworfener Erde mir den Weg zu dem Ort wies, an dem ich Vio von nun an immer finden würde. Weil irgendjemand, der noch frei herumlief, sie mir weggenommen hatte. Und damit nicht nur Vios, sondern auch das Leben ihrer Familie kaputt gemacht hatte. Und meins dazu.
    Ich wünschte, dem Mörder würde dasselbe widerfahren, das er Vio angetan hatte. Nein, eigentlich wollte ich, er würde lebendig begraben werden! Mit brennenden Augen starrte ich auf das schmale, ausgehobene Rechteck. Als die vier Sargträger den Sarg vorsichtig in das Loch senkten, kniff ich die Augen zu. Ich wollte nicht sehen, wie das Letzte, das von Vio geblieben war, nun auch noch verschwand.
    »Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden. Erde zu Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub.« Bei jedem Satz stach der Pfarrer das Schäufelchen in den Kübel mit Erde und etwas davon flog in das offene Grab. Jedes Mal, als Dreckkrümel und kleine Steine den Sarg trafen, war ein trockenes Rasseln zu hören. Das Geräusch klang überlaut und endgültig und ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten.
    Einer nach dem anderen trat heran und warf erst eine rote Rose, dann etwas Erde hinunter. Und dann schob mich meine Mutter sanft vorwärts. »Du bist dran«, flüsterte sie.
    Ich trat an den Rand des Grabes. Tief war es, wieso musste Vio so tief da unten liegen? Unter mir sah ich die Lilien, deren weiße Blüten nun mit Sand und Erde schmutzigbraun gesprenkelt waren. Die senkrechten Wände der Grube glänzten sattfeucht. Die Sonne brach durch die Wolken und schickte schräge Strahlenbündel auf den Friedhof. Doch da unten bei Vio war es so dunkel. Warum hatte mansie erst unter dem Schlehenbaum ausgegraben, um sie jetzt wieder einzugraben? Ich stand wie gebannt und brachte es nicht über mich, nach der Schaufel zu greifen. Erde auf Vio zu werfen wäre mir vorgekommen, als würde ich meine Freundin begraben, sie einsperren, während sie einsam da unten lag und das schwere Erdreich jeden Sonnenstrahl, der noch zu ihr durchdrang, abschnitt …
    Alles fing an, sich vor meinen Augen zu drehen, und ich bekam keine Luft mehr. Hastig warf ich mein buntes Sträußchen aus Dahlien, Astern sowie einem leuchtend roten Hagebuttenzweig zu Vio hinab. Dann drehte ich mich um und rannte vom Friedhof.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: amentet

    liebe vio,
    hast du gewusst, dass die ägypter das totenreich »amenti« nannten? sie haben fest daran geglaubt, dass jede seele nach dem tod in einer ähnlichen welt jenseits der unseren weiterlebt.
    ich wünschte, ich könnte das auch glauben. dann erfände ich eine welt für dich, in der es keine schule gibt, in der du nicht französisch lernen musst, wo sich aber ein klamottengeschäft ans nächste reiht und du umsonst shoppen könntest. in dieser welt hättest du das ganze spektrum der farben auf deiner malerpalette und immer genug zeichenpapier. und weil sich dort auch andere seelen aufhielten, müsstest du nur um die ecke gehen und da säßen sie vor ihren leinwänden, deine idole: franz marc, gabriele münter und august macke. sie nähmen dich freundlich in ihren kreis auf und zusammen würdet ihr eure welt in leuchtende farben tauchen.
    draußen ging gerade die sonne hinter organgerosafarbenen wolkenunter. vielleicht hast tatsächlich DU den himmel mit deinen jenseitsfarben in flammen gesetzt? liebe vio, ich würde so gern glauben, dass es dir gut geht, da, wo du jetzt bist. aber durch meine träume geisterst du als gequälte seele.
    deine lila

    In meinem Zimmer fiel mein Blick als Erstes auf Vios Lederjacke und ihren Schal. Ich nahm beides in die Hand. Was sollte ich damit machen? Zu Vios Mutter bringen? Aber ich befürchtete, ihr damit vielleicht noch mehr Schmerz zuzufügen. Behalten? Der Gedanke war tröstlich und seltsam zugleich. Einerseits kam es mir vor, als würde ich Vio beklauen, andererseits hätte ich damit wenigstens ein Andenken an sie.
    Vorsichtig schob ich meinen Arm erst in den linken, dann in den rechten Ärmel der Jacke. Das Kunstleder schmiegte sich überraschend angenehm an meine Haut und wieder roch ich Vios schwachen Duft. Ich

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