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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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unsere Freundschaft wäre nie zu Ende gegangen. Stumm folgte ich ihrer Mutter.
    Bereits beim ersten Schritt in Vios Zimmer verkrampfte sich alles in mir. Der Raum war noch genau so, wie sie ihn verlassen hatte: Ein buntes Chaos aus Schals, Modeschmuck und einem einzelnen Schuh tummelte sich auf dem Teppich neben einem Stapel zerlesener Modezeitschriften. Dort war der bräunliche Fleck, als Vio eine Tasse Tee verschüttet hatte, hier lag achtlos über einen Stuhl geworfen eines ihrer Shirts, an der Wand lehnte Vios Zeichenblock.
    Es war, als würde sie jeden Moment hereinstürmen und mir lachend einen Knuff geben: »Hey Lila, guck’ nicht so, sonst bleibt’s!«
    In diesem Moment erschien es mir völlig abwegig, dassVio für immer fort war und nie wieder dieses Zimmer mit ihrem lauten Lachen erfüllen würde …
    »Geh nur rein, ich bin noch gar nicht dazugekommen, aufzuräumen …«, sagte ihre Mutter tonlos und ich stolperte unbeholfen vorwärts. Ich konnte Vios Gegenwart wie einen weiten, unsichtbaren Mantel um mich herum spüren. Eine Gänsehaut überzog meine Arme, meine Kopfhaut kribbelte.
    »Vio, bist du’s?«, fragte ich stumm in den Raum hinein. »Bist du hier, kannst du mich sehen?«
    Doch das Gefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war. Falls Vios Geist oder ihre Seele tatsächlich gerade hier gewesen war, dann nur für einen Augenblick, ein sekundenflüchtiges Huschen durch die Welt der Lebenden, ehe sie wieder verschwunden war.
    »Hier, schau mal. Das müsste dir passen. Und das und vielleicht dieses noch …?« Vios Mutter zog fieberhaft Klamotten aus dem Schrank und legte sie aufs Bett. Ich sah die vertrauten Vio-Fantasieshirts. Ein Schmerz, als würde in meinem Inneren ein Vulkan glühende Lava spucken, ließ mir die Kehle eng werden. Vorsichtig, als wären sie zerbrechlich, nahm ich die bunten Stoffstücke und presste sie an mich. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich stattdessen Vio hätte drücken können.
    »Hier, ich habe noch was gefunden, das kannst du auch haben«, hörte ich die Stimme von Vios Mutter hinter mir.
    »Frau Neubauer …«, begann ich und wollte ihr sagen, dass sie aufhören musste, mir Vios Sachen zu geben, es war zu viel, es tat zu weh. Doch als ich mich umdrehte, sah ich, was Vios Mutter in der Hand hielt: Vios Kettchen mit dem Anubis-Anhänger.
    Schlagartig sah ich Vio vor mir, wie sie mich umarmteund der Kettenanhänger bei mir einen winzigen Abdruck an meinem Schlüsselbein hinterlassen hatte. Die Erinnerung traf mich wie ein Nadelstich. Und dann tauchte auf einmal das Bild von Vio auf, die in meinem Paillettentop vor mir gestanden hatte: mit dunkelroten Haaren und ihrem schlanken weißen Hals – nur die Kette mit dem Anhänger fehlte. Sie hatte sie an dem Abend der Schulfete nicht getragen.
    »Wo haben Sie die Kette gefunden?«, fragte ich.
    »Die lag auf dem Regal, wieso?«, fragte Vios Mutter und ihre Stimme klang unsicher.
    »Das gehört doch Viktoria, oder nicht?«, hakte sie nach und ich beeilte mich zu bejahen. »Dann nimm sie als Andenken«, bat Vios Mutter und ich nickte wie hypnotisiert.
    Mit einem zarten Klirren glitt die Kette mit dem schakalköpfigen Totengott in meine ausgestreckte Hand.
    »Siehst du, ich weiß nicht mal, welchen Schmuck meine Tochter getragen hat«, sagte Vios Mutter und ihre Stimme klang bitter.
    »Im Grunde wusste ich überhaupt nichts über sie. Weil ich nur gearbeitet habe und keine Zeit für sie hatte. Das hat Viktoria mir früher oft vorgeworfen. Aber ich musste doch Geld verdienen! Wenn ich gewusst hätte …«
    Vios Mutter verstummte schlagartig und presste die Lippen zusammen. Wie blind starrte sie auf den Boden, wo Vios Zeichenblock lehnte.
    Ich stand hilflos mit einem Stapel Kleider unter dem Arm da, meine Faust umschloss Vios Kette. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wie ich Vios Mutter trösten konnte. Denn es stimmte: Sie war den ganzen Tag weg, und wenn sie abends vom Job nach Hause kam, hatte es mit Vio oft nur noch Stress gegeben. Vios Vater hieltsich fein raus, der tauchte nur alle Jubeljahre auf, ein paar Geschenke im Kofferraum, und spielte den entspannten, großzügigen Daddy. Vio wartete sehnsüchtig auf diese Besuche. Ich hatte mal vorsichtig versucht ihr klarzumachen, dass ihre Mutter in dieser Konstellation die Loser-Karte gezogen hatte, aber Vio hatte nur mit einem verächtlichen »pfff« abgewunken: »Meine Mutter macht aus jeder Mücke einen Elefanten«, hatte sie gemeint, »kein Wunder, dass mein

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