Schlehenherz
erstickte, stopfte sie mit der einen Hand Julius in seinen Kindersitz zurück und sammelte mit der anderen das verstreute Käsebrot ein. Anschließend zog sie mich in den Lichtkegel der Esszimmerlampe: »Es sieht ja nicht schlecht aus, aber … findest du nicht, du hättest wenigstens vorher mit uns reden können?«
»Wozu – es sind doch meine Haare«, widersprach ich selbstbewusster als ich mich fühlte.
»Schon, aber … ich meine, das geht doch wohl hoffentlich nach zwei, drei Haarwäschen wieder raus?«, fragte meine Mutter.
»Naja, um ehrlich zu sein – nein«, sagte ich nun doch etwas kleinlaut.
»Sag mal, bist du verrückt geworden? Wieso hast du das gemacht? Willst du künftig wie eine Signallampe durch die Gegend laufen, oder was?« Mein Vater hatte seine Sprache wiedergefunden und polterte natürlich gleich los.
Obwohl ich damit gerechnet hatte, fiel es mir schwer, mich zu verteidigen. Im ersten Moment wäre ich nämlich auch fast umgekippt als ich das Handtuch, das ich um meine nassen Haare geschlungen hatte, abnahm – so verändert sah ich aus. Mit trockenen Haaren war die Wirkung sogar noch extremer: Mein halblanger, ehemals mausbrauner Bob schimmerte nun dunkelrot.
Zwar trug ich die Haare kürzer als Vio, doch die Farbe war die gleiche. Ich hatte immer noch Vios Oberteilan und auf den ersten, flüchtigen Blick hätte man uns für Schwestern halten können. Wenn Vio denn noch leben würde. Dieser Gedanke riss mich zurück in die Gegenwart. Heftiger als beabsichtigt entgegnete ich meinem Vater: »Wie ich herumlaufe, ist meine Sache. Ich muss euch nicht fragen, wie ich mich style oder ob es euch gefällt. Ich bin kein kleines Kind mehr!«
Mein Vater sog scharf die Luft ein, und ich wusste, was jetzt kam: eine Standpauke erster Güte. Widerspruch vertrug er schlecht, vor allem bei »unsachlichen Argumenten«, wie er sich gern ausdrückte. Zudem war ich auch noch patzig geworden – für meinen Vater ein rotes Tuch.
Doch ehe er seine Strafpredigt vom Stapel lassen konnte, legte meine Mutter ihre Hand auf seinen Arm und sagte ruhig, aber bestimmt: »Hannes, lass sie!«
Meinem Vater klappte erstaunt der Mund zu, doch ein Blick in das ernste Gesicht meiner Mutter – und er gab nach. Grummelnd nahm er Messer und Gabel und attackierte damit eine unschuldige Tomate auf seinem Teller.
Julius hieb mit seinem Löffel auf den Tisch und erklärte energisch: »Rote Haare sööön! Ich will auch!«
Mein Vater hob den Kopf und warf meinem kleinen Bruder einen finsteren Blick zu: »Du hast Sendepause, Julius, sonst geht’s per Express ab ins Bett, klar?«
Während mein kleiner Bruder hinter seinem Käsebrot schmollte, verzog ich mich in mein Zimmer. Ich hatte sowieso keinen Hunger gehabt.
»Boaaaah, Lila, wie siehst du denn aus???«
Na super, dachte ich: Wem lief ich am nächsten Schultag mit meinen roten Haaren als Erste über den Weg? Nessie. Und die kreischte natürlich sofort los wie eine Alarmsirene,sodass sich alle Schüler in der Pausenhalle zu uns umdrehten. Sogar der Verkäufer am Schulkiosk hob kurz den Kopf und auch zwei Lehrer sahen flüchtig zu uns herüber. Nessie hätte auch gleich die Sprechanlage benutzen können. Ich wollte diese Zicke ignorieren, doch das war Wunschdenken.
»Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?«, jodelte Nessie in unverminderter Lautstärke.
Mein erster Impuls war, Hals über Kopf auf die Toilette zu flüchten, doch dann dachte ich an Vio und wie sie wohl in so einer Situation reagiert hätte. Unbewusst fasste ich mit der Hand an meinen Hals und spürte den Anubis-Anhänger an der Kette, die ich inzwischen Tag und Nacht trug. Und auf einmal war mir, als stünde Vio an meiner Seite. Ich holte tief Luft und musterte Nessie von oben bis unten.
»Ich hab mir die Haare gefärbt, Vanessa «, sagte ich ebenso laut wie sie. Und fügte hinzu: »Damit dürftest DU dich doch super auskennen. Weißt du was? Beim nächsten Termin im Beautysalon lässt du dir am besten gleich kosmetisch den Kopf entfernen – fällt wahrscheinlich sowieso nicht auf!«
Gelächter brandete auf. Als ich mich umblickte, waren die Blicke der umstehenden Schüler jedoch nicht auf mich gerichtet. Alle musterten grinsend Nessie, einige mit deutlicher Schadenfreude. Garantiert hatte keiner, am wenigsten Nessie, mit so einem Konter gerechnet. Schon gar nicht von mir. Nun hatte sie den Kürzeren gezogen. Mit einem hasserfüllten Blick in meine Richtung rauschte sie ab.
Bemüht cool hob ich das
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