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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Mühsam wie eine alte Frau richtete ich mich auf und blieb gekrümmt stehen. Wie ein Fangeisen hatte der Schmerz über Vios Verlust zugeschnappt und sich mit kalten, spitzen Zähnen in meine Eingeweide verbissen. Ich hatte nicht gewusst, dass Traurigkeit so wehtun konnte.

    Wegen des Tränenschleiers nahm ich zuerst nichts wahr. Nachdem ich jedoch ein paar Schritte gegangen war, fiel mir die Veränderung des Lichts auf: Der Himmel warnicht mehr hellgrau mit weißen Wolkentupfern, sondern hatte die Farbe von Schiefer angenommen. Blaue Schatten krochen aus dem nahen Wald. Auch die Vögel waren verstummt. Kein Zwitschern, kein Laut durchdrang die Stille. Erschrocken wollte ich die Uhrzeit auf meinem Handy nachsehen und bemerkte, dass ich es wohl zu Hause vergessen hatte. Die Dämmerung senkte sich jetzt so rasch über das Moor, als würde jemand eine dunkle Decke über die Landschaft breiten. Aus den Moorwiesen stieg Nebel in silberdurchsichtigen Schwaden, als würden die Seelen der Toten zu einer unhörbaren Musik tanzen …
    Ich fing an, schneller zu laufen. Schon bald bekam ich Seitenstechen – Angst war kein guter Trainer. Mein Atem ging stoßweise und klang in meinen eigenen Ohren überlaut. Dazu im Takt der dumpfe Aufprall meiner Turnschuhe auf dem weichen Wiesenweg … Doch da war noch etwas – gedämpft, verstohlen, aber eindeutig: Schritte. Nicht meine eigenen, sondern hinter mir. Mein ganzer Körper wurde starr vor Angst und meine Kopfhaut zog sich zusammen, als hätten die dürren Äste des Schlehdorns nach meinen Haaren gegriffen. Gleichzeitig aber wusste ich, dass das, was mich verfolgte, sehr real war.
    Ich rannte los. Doch auch mein Verfolger zog das Tempo an und gab sich nun keine Mühe mehr, leise zu sein. Seine schweren Tritte kamen jetzt näher, ich konnte sein Keuchen vernehmen. Er holte auf. Verzweifelt versuchte ich, schneller zu laufen, gleichzeitig hatte ich das Gefühl, meine Beine wären aus Blei und ich käme keinen Meter voran. Als stünde ich hüfthoch im Nichtschwimmerbecken und versuchte, gegen den Widerstand durchs Wasser zu pflügen.
    Während meine Lunge anfing zu brennen, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte, wenn der Verfolger micheinholen und packen würde. Ich hatte nichts dabei, das als Waffe taugte, keinen Hausschlüssel, keine Nagelfeile …
    Unsere Sportlehrerin hatte uns mal einen Judogriff gezeigt, mit dem man einen Angreifer angeblich zu Boden werfen konnte, doch ich wusste, dass ich nicht stehen bleiben, mich nicht umdrehen durfte, sonst würde ich am Boden liegen, und was dann mit mir passierte, wollte ich mir gar nicht erst ausmalen.
    »Wenn ihr auf der Straße von einem Unbekannten gepackt werdet, ruft am besten laut ›Feuer‹!«, hatte uns die Sportlehrerin noch geraten. Angeblich wurden Leute auf diese Weise am schnellsten auf die Gefahr aufmerksam, das hatte jedenfalls irgendeine Untersuchung der Polizei ergeben. Doch hier – mutterseelenallein im Moor – waren all diese Tipps völlig sinnlos.
    Trotzdem wollte ich schreien, um Hilfe rufen, doch mein Atem reichte nur für ein dünnes Wimmern, von dem ich wusste, dass es niemand hören würde. Niemand außer meinem Verfolger.
    Ich spürte, wie meine Kräfte nachließen. Dennoch stolperte ich weiter, wobei ich schluchzend die Luft einsog, aber lange würde ich nicht mehr durchhalten.
    »Vio, hilf mir«, flehte ich stumm und wusste doch gleichzeitig, dass sie mir nicht beistehen konnte. Wer auch immer mich gerade durchs Moor hetzte – es war dieselbe Person, die Vio auf dem Gewissen hatte, dessen war ich mir in diesem Moment ganz sicher. Und ich sollte das nächste Opfer sein. Würde mich die Polizei auch unterm Schlehenbaum finden – ermordet und vergraben, so wie Vio? Und läge ich dann auch bald in einem Sarg tief unter der Erde? Diese Vorstellung ließ mich noch einmal alle Kraftreserven mobilisieren. Ich spürte, wie sich meine Beine wie von alleinebewegten. Vor mir sah ich den Parkplatz. Dahinter fing die Straße an, mit Häusern, in denen Menschen wohnten, die mir helfen konnten …
    Im selben Augenblick spürte ich einen Ruck, der meinen Lauf abrupt bremste. Etwas zerrte von hinten an meinem Schal, der sich plötzlich eng um meine Kehle zusammenzog. Ich wurde hart zurückgerissen und schnappte verzweifelt nach Luft.
    Im selben Moment stach mir ein Geruch in die Nase – widerlich süß und klebrig schwer. Es roch nach einer Mischung aus Schweiß, muffigen Gewürzen und fauligem Holz. Mir wurde

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