Schlehenherz
wusste, sie würde meinen Vater einweihen und sofort die Polizei anrufen. Außerdem ließe sie mich garantiert nicht mehr aus den Augen, bis man meinen Verfolger geschnappt hätte.
Aber so dämlich, wie die Polizei sich bei der Aufklärung von Vios Mord anstellte, dauerte es mit einer Festnahme wahrscheinlich ewig. Ganz abgesehen davon konnte ich keinerlei Hinweise auf den Angreifer geben. In meiner Panik hatte ich weder auf Körpergröße noch auf seine Statur geachtet. Sein Gesicht hatte er verborgen, und es war zudunkel gewesen und alles viel zu schnell gegangen, um wenigstens die Augenfarbe erkennen zu können.
Beste Voraussetzungen also für die Polizei, mich nicht ernst zu nehmen. Vor allem nicht, nachdem ich kurz vorher einen Mitschüler verdächtigt hatte, der ein offenbar hieb- und stichfestes Alibi vorzuweisen hatte.
Ich konnte mir die Stimme der Kommissarin lebhaft vorstellen, wie sie ruhig und verständnisvoll mit meiner Mutter redete: »Ihre Tochter ist etwas überreizt, Frau May«, würde sie sagen und hinzufügen: »Vielleicht suchen Sie für Elina – tja, wie soll ich sagen – professionelle Hilfe?«
Sofort verwarf ich die Idee, mich meiner Mutter anzuvertrauen. Ich rechtfertigte meinen Entschluss vor mir selbst mit dem Argument, dass ich unter ihren wachsamen Blicken keine Gelegenheit mehr hätte, nach Vios Mörder zu forschen. Aber genau das hatte ich Vio – oder ihrer Seele – versprochen und deshalb würde ich den Vorfall heute für mich behalten.
»Okay, Große. Komm mit in die Küche, ich mache dir einen Tee.« Die weiche Stimme meiner Mutter unterbrach meine düsteren Gedanken. Ich sah hoch und sah ihren besorgten Blick, den sie hinter einem mütterlichen Lächeln zu verbergen versuchte. Jetzt kamen mir wirklich die Tränen. Ein Mix aus Schuldgefühlen und plötzlicher Liebe zu ihr überwältigte mich und ließ meine Stimme erstickt klingen. »Nee, ich will nur noch in die Badewanne und ins Bett«, quetschte ich gerade noch raus, ehe ich sie einfach stehen ließ.
Nicht, dass sie mich auch noch heulen sah. Hätte meine Mutter mich in diesem Moment in den Arm genommen, alles wäre in einem Wortschwall aus mir herausgesprudelt.
Doch sie wandte sich leicht beleidigt ab und verschwandmit einem kurz angebundenen »Wie du meinst« zu meinem Vater und meinem kleinen Bruder ins Wohnzimmer. Ich stand noch ein paar Sekunden im dunklen Flur und lauschte auf die leisen Familiengeräusche: die tiefe Stimme meines Vaters, der Ton, als der Fernseher angestellt wurde, und Julius’ begeistertes Kreischen, als die Titelmelodie seiner Lieblingsserie im Kinderkanal erklang. Ich beneidete meinen kleinen Bruder, weil er sich geborgen fühlen konnte und keine Angst haben musste.
Mühsam, als wäre ich einen Marathon gelaufen, schleppte ich mich ins Badezimmer. Im Spiegel starrte mir mein geisterblasses Gesicht mit fiebrig glänzenden Augen entgegen. Ich hielt den Kopf unter den Wasserhahn: fix und fertig, aber heilfroh, am Leben zu sein.
* * *
Er hatte versagt! Fassungslos und zornig stand er unter dem mondlosen Himmel und beobachtete, wie sein hastiger Atem weiße Dampfwölkchen in der klirrkalten Nachtluft bildete. Dabei war er so nah dran gewesen, hatte seine Beute sogar schon gepackt gehabt. Doch sie war ihm entkommen. Sein zweiter Fehler innerhalb kürzester Zeit. Sein erster war, zu früh die Verfolgung aufzunehmen. Die Beute musste ihn gehört haben, denn plötzlich war sie aus ihrer kauernden Haltung am Fuß des Baumes aufgesprungen und losgelaufen. Er wollte ihr lautlos folgen, doch da fing sie an zu rennen. Und sie war schnell!
Trotzdem wäre alles nach Plan verlaufen, hätte er beide Enden ihres Schals zu fassen bekommen. Und wäre dieser verdammte Wagen nicht auf dem Parkplatz gestanden. Als die Beute die Tür aufriss, wusste er, dass er verloren hatte. Schnell und lautlos war er umgekehrt und gleich darauf hatte die Nacht ihn ver schluckt. Kurz hatte ihn ein Gefühl der Erleichterung durchflutet: Niemand hatte ihn gesehen, er war unerkannt geblieben. Doch dann wurde ihm bewusst, dass er Fehler gemacht hatte, dumme Fehler, wie ein Anfänger. In der freien Wildbahn konnte schon ein einziger Patzer tödlich sein und den Jäger zum Gejagten machen. Grellrote Wut kroch in ihm hoch und ein wütender Schrei entfuhr seiner Kehle wie das Heulen eines Wolfes. Das brachte ihn zur Besinnung: Noch einmal würde ihm die Beute nicht entkommen. Zwar ging sie sicher nicht mehr alleine ins Moor, aber er
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