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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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bisschen mitzuhelfen …«, sagte sie bedeutsam.
    Ich hatte jetzt aber keinen Nerv für ihre Erziehungsversuche, also knurrte ich nur ein »Ja, ja« und drückte mich hastig an ihr vorbei zur Gartentüre.
    »In einer Stunde wird es dunkel, spätestens dann bist du bitte wieder da«, hörte ich die mahnende Stimme meiner Mutter hinter mir.
    Ich hob nur zustimmend die Hand und beeilte mich wegzukommen. Insgeheim war ich froh, dass sie nicht nachgebohrt hatte, wohin ich wollte. Ich war eine miserable Lügnerin, aber hätte ich meiner Mutter die Wahrheit gesagt, hätte sie entweder die Krise gekriegt oder es mir verboten.
    Aber es zog mich ins Moor, zu dem Schlehenbaum, von dem mir Vios Vater erzählt hatte. Der Schlehenbaum, der in der Nähe »unseres« Hochstandes wuchs – und unter dem man Vio gefunden hatte. Suchte ich nach Hinweisen auf ihren Mörder? Oder hoffte ich, Vio würde dort Kontakt mit mir aufnehmen, mir ein Zeichen schicken oder so was Ähnliches? Ich wusste es nicht, aber wie von einem Magneten angezogen bog ich in die kleine Straße ein, die erst zu einem Parkplatz und dann weiter ins Moor hineinführte.
    Am Anfang der Straße befanden sich noch ein paar kleine Geschäfte, darunter ein Blumenladen. Dort kaufte ich eine weiße Lilie. Die wollte ich unter den Schlehenbaum legen.
    Für Vio. Damit sie wusste, dass ich an sie dachte und sie mir fehlte. Dass ich nicht aufgeben würde, bis ihr Mörder gefunden war. Und – was ich mir nur zögernd eingestand – damit sie mir vergab: mein Verhalten am Abend der Schulfete und dass ich mich heute mit Till getroffen hatte. Eine weiße Blume für die Vergebung einer Toten.
    Ich hatte den Rand des Moorgebietes erreicht. Aus dem Gelb der spröden Grashalme ragten ein paar Schilfhalme, deren sonst samtbraune Köpfe nun mit Nässe vollgesogen waren und schwammig-schwarz auf ihren dünnen Stängeln schwankten. Die Bäume am nahen Waldrand standen undurchdringlich wie eine Reihe düsterer, regloser Soldaten. Und davor, einsam auf einer kleinen Anhöhe gelegen: ein Schlehenbaum. Vios Schlehenbaum.
    Meine Schritte wurden immer langsamer und zögerlicher. Glaubte ich tatsächlich, ich könnte mich mit der Lilie von meinen Schuldgefühlen freikaufen? Hoffte ich, nachdem ich an Vios Todesstelle gewesen war und dort theatralisch eine Blume geopfert hatte, unser letzter Streit wäre vergessen und mein Leben würde wieder normal sein?
    Ich blieb stehen und betrachtete den Kelch der Blüte, deren Weiß so wächsern schimmerte, wie ich mir das Gesicht der Toten vorstellte, für die sie bestimmt war. Wieder traf mich die Gewissheit, Vio nie wiederzusehen, und bohrte sich wie ein rostiger Nagel in mein Herz.
    Ich beschleunigte meine Schritte und hielt erst an, als ich vor dem Schlehenbaum stand. Seine zahlreichen kleinen Äste bildeten bizarre Formen, die sich wie die verkrüppelten Finger einer alten Hexe schwarz gegen den grauen Oktoberhimmel reckten. Als wollten sie mit ihren Dornen nach allem greifen, was lebte, und es zwischen ihre nassen, toten Zweige ziehen …
    Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ich konnte nicht mal schreien. Mein Herzschlag setzte eine Sekunde lang aus, und es fühlte sich an, als würde statt Blut Eiswasser durch meine Adern fließen. Im nächsten Moment hörte ich ein Krächzen und sah den schemenhaften Umriss eines großen Raben, der sich mit seiner Beute im Schnabel einen Meter entfernt aus dem gelben Gras erhob und mit lautlosen Flügelschlägen über mich hinwegsegelte. Mein Blick folgte ihm: Unglücksbringer, Totenvogel.
    Erleichtert stieß ich die Luft aus, die ich gefühlte drei Minuten angehalten hatte. Mein Herz flatterte immer noch wie ein erschrockener Käfigvogel, als ich in die Hocke ging, um die Lilie am Fuß des Schlehenbaums niederzulegen. Dort wuchs kein Gras. Stattdessen war die Erde aufgeworfen und lag in nassen, lockeren Krumen um den Wurzelstamm des Baumes. Sofort hatte ich Vios offenes Grab auf dem Friedhof vor Augen, kurz bevor ihr Sarg hinuntergelassen wurde.
    Und nichts anderes war auch die Stelle unterm Schlehdorn. Dort hatte der Mörder Vio begraben, in der Hoffnung, der Baum würde sein schreckliches Geheimnis nie mehr preisgeben. Fast konnte ich Vio da liegen sehen, die Lippen blutleer und die roten Haare wie ein Fächer um ihr bleiches Gesicht gebreitet …
    Etwas Heißes rann über meine Wangen. Erst als ich mit dem Handrücken über mein Gesicht fuhr, spürte ich die Nässe und merkte, dass es Tränen waren.

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