Lügenradar tatsächlich außer Gefecht gesetzt wurde und sie sich bereit erklärte, mich in der Schule zu entschuldigen. Auch wenn sie es sich natürlich nicht verkneifen konnte, mich wegen meines fehlenden Schals gestern zu rügen: »Du musst dich in Zukunft wirklich wärmer anziehen, sonst holst du dir noch den Tod.«
Dass ich mir den beinahe wegen eines Schals geholt hätte, weil ich damit fast erwürgt worden wäre, sagte ich ihr lieber nicht.
Zumindest ließ ich mich von ihr überzeugen, wenigstens kurz aufzustehen, um einen heißen Tee mit Honig gegen die Halsschmerzen zu trinken.
Am Frühstückstisch herrschte das übliche Chaos, das mein kleiner Bruder allmorgendlich mit Kakao und seinen Dinkelcornflakes veranstaltete. Heute nahm ich es kaum wahr. Ich hatte mir meine Bettdecke wie einen Poncho umgelegt und hielt die Enden am Hals zusammen. Meine Mutter sollte nicht auf den roten Streifen um meinen Hals aufmerksam werden, der über Nacht blasser geworden, aber für ein mütterlich geschultes Auge noch sichtbar war. Apathisch sah ich zu, wie sie mir fürsorglich Tee einschenkte und mit der anderen Hand schon die Handykontakte nach der Nummer meiner Schule durchblätterte.
Ich hatte also eine Galgenfrist. Nur: Lange konnte ich mich nicht zu Hause verbarrikadieren. Heute war Donnerstag. Spätestens nach dem Wochenende musste ich wieder zur Schule, länger konnte ich eine unechte Erkältung nicht ausdehnen. Von unserem Haus bis zum Gymnasium waren es zwei Kilometer. Zwanzig Minuten zu Fuß. Oder fünf Minuten mit dem Fahrrad. Ausreichend Zeit fürVios Mörder, um auch mir aufzulauern? Das vergewaltigte Mädchen war damals ja auch auf dem Nachhauseweg gewesen, als sie vom Rad gezerrt wurde … Gleich darauf rief ich mich innerlich zur Ordnung: Meinen gesamten Schulweg säumten Wohnhäuser und Geschäfte. Keine dunkle, verlassene Ecke weit und breit, in der ein maskierter Mann lauern konnte. Trotzdem – bei dem Gedanken, alleine nach draußen gehen zu müssen, lief mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich hatte Angst, dass er mich finden würde, egal wo ich war …
In dem Moment spürte ich eine Hand in meinem Nacken. Ich schrie auf und warf mit einer unkontrollierten Bewegung meine Teetasse um. Die heiße Flüssigkeit ergoss sich über den Tisch. Teller und Löffel klirrten, als meine Oberschenkel beim Aufspringen hart gegen die Tischkante stießen. Adrenalin strömte durch meinen Körper und in meinem Kopf hatte nur ein Gedanke Platz: Er hatte mich gefunden! Geduckt fuhr ich herum, die Hand schützend an meiner Kehle – und blickte in die fassungslosen Mienen meiner Eltern.
»Lila, um Himmels willen – was ist denn in dich gefahren?«, fragte mein Vater perplex.
Durch den Schock auf 180, fuhr ihn harsch an: »Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken?«
Meine Mutter, die mit einem Lappen aus der Küche gekommen war und den Tee wegwischte, sah befremdet hoch, während mein Vater mich kopfschüttelnd musterte. »Ich wollte doch nur wissen, wie es dir geht, mein Gott«, sagte er leicht gekränkt. »Kein Grund, so auszuflippen.«
»Sorry, aber neulich hat sich in der Schule einer einen blöden Scherz erlaubt und uns Mädchen … ähm … Hagebutten in den Rückenausschnitt gesteckt«, erfand ich hastig eine Ausrede, während ich mich wieder in meine Decke wickelte. Tatsächlich hatte ich vor Kurzem im Unterricht gehört, dass die pelzigen Kerne dieser roten Früchte, wenn sie auf Haut trafen, teuflisch juckten. In Gedanken sandte ich ein kurzes Dankgebet an die Bio-Gärtner und ihre manchmal recht seltsamen Abschweifungen in die heimische Pflanzenkunde.
Meine Eltern gaben sich mit dieser Erklärung für meine hysterische Reaktion zufrieden. Wahrscheinlich dachten sie, ich wäre wegen meiner Erkältung etwas überreizt und würde mich schon wieder beruhigen.
Ich hütete mich, weitere Erklärungen zu versuchen. Tief in meinem Inneren wusste ich jedoch, dass ich ab jetzt mit der Angst leben würde. So lange, bis Vios Mörder – der Maskenmann aus dem Moor – gefasst war.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: dein mörder
liebe vio,
ich weiß nicht, was ich tun soll. ich habe dir ein versprechen gegeben und das würde ich gerne halten, aber ich weiß nicht, ob ich es kann: eigentlich wollte ich deinen mörder finden – aber jetzt hat er mich zuerst gefunden …
vio, ich habe angst.
deine lila
7. Kapitel
Inzwischen war ich Zeichentrickfilm-Expertin. Ich verbarrikadierte mich