zu Hause und tat keinen Schritt nach draußen. Stattdessen guckte ich mit meinem kleinen Bruder alles, was Disney, Pixar & Co so hergaben. Meine Mutter hatte es zwar nicht gern, wenn Julius zu viel vor der Glotze saß, aber unsere betagte Nachbarin hatte sich den Knöchel verstaucht und meine Mutter kaufte für die alte Dame ein und sah ab und zu nach ihr. Da kam es ihr ganz gelegen, dass ich als Zwergensitter einsprang.
Und Julius war begeistert. Bei »Küss den Frosch« quietschte er vor Vergnügen über das freche grüne Tier und er liebte Balu, den Bären aus dem »Dschungelbuch«. Als der gemütliche Grizzly mit dem Menschenjungen Mogli auf seinem dicken Bärenbauch den Fluss hinunterpaddelte, sang Julius inbrünstig Balus Lied »Probier’s mal mit Gemütlichkeit« mit. Ich beobachtete meinen kleinen Bruder und wünschte, ich wäre noch klein und arglos. Dann könnte ich mir einbilden, es gäbe auch im Leben immer ein Happy End.
Ab und zu blickte ich aus dem Fenster und sah im Nachbarhaus die alte Dame mit bandagiertem Fuß im Sessel sitzen. Wenn sie mich entdeckte, winkte sie freundlich herüber und ich winkte zurück: Zwei Gefangene, die nicht hinauskonnten. Sie wegen ihres Knöchels und ich wegen meiner Angst.
Von:
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[email protected] Betreff: alles ok?
Hey Lila,
hab dein Profil in Schüvizett gefunden. Warst die letzten 2 Tage ja nicht in der Schule, alles ok mit dir?
Nessie
Von:
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[email protected] Betreff: AW: alles ok?
Hallo Nessie,
danke, geht so. Hab mich krank gemeldet, muss aber Montag wieder in die Schule. Aber die Sache im Moor bleibt unter uns, wie versprochen, ok?
Lila
Von:
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[email protected] Betreff: RE: AW: alles ok?
Soll ich dich abholen? Wohne ja nur paar Blocks von dir weg.
Nessie
Tatsächlich stand sie am nächsten Morgen pünktlich vor unserem Haus. Ich lächelte sie dankbar an. Der rote Streifen um meinen Hals war verschwunden und ich konnte vor meiner Mutter nicht länger eine Erkältung simulieren, um einen weiteren Tag in der Schule zu fehlen. Umso erleichterter war ich, dass Nessie mich begleitete.
Schweigend trotteten wir nebeneinander her. Nur einmal sah sie mich von der Seite an und meinte trocken: »Käseweißes Gesicht, rote Haare – du siehst aus wie Pommes Schranke!«
Ich blickte zu ihr rüber – und dann brachen wir beide in Gekicher aus. Eigentlich war mir überhaupt nicht nach Lachen zumute, aber als ich damit angefangen hatte, konnte ich fast nicht mehr aufhören. Langsam tat mir schon der Bauch weh, aber immer, wenn ich Nessies Blick erhaschte, stieg das Lachen wie ein hartnäckiger Schluckauf wieder in mir hoch. Und auch sie prustete eine ganze Weile, bis sie sich verstohlen die Lachtränen aus den Augen wischte und eine komische Grimasse in meine Richtung schnitt.
Ich war verwundert, wie nett sie auf einmal war. Vielleicht hatte ich ihr aber auch bisher unrecht getan und sie war gar nicht die superblöde Zicke, für die wir sie immer gehalten hatten. Ich – und Vio.
In der Pause verschanzte ich mich allerdings auf der Toilette, auch wenn Nessie drängelte, mit ihr und diesem Alex raus auf den Hof zu kommen. Aber ich wollte nicht. Die Angst hatte mich fest in den Klauen wie ein Raubvogel seine Beute.
Mir fiel ein Spiel ein, das wir in der Grundschule oft gespielt hatten: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann«. Einer war der »schwarze Mann« und musste versuchen, die anderen zu fangen. Der Fänger rief: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«
Alle riefen zurück: »Niemand!«
»Wenn er aber kommt?«
»Dann rennen wir davon!«
Im Moor war ich auch vorm schwarzen Mann davongerannt, nur war es kein Spiel, sondern tödlicher Ernst gewesen.
Obwohl mein Verstand mir sagte, dass auf dem belebten Schulhof nichts passieren konnte, fühlte ich mich nur in der engen Kabine der Mädchentoilette sicher: Dort wareine Tür, die ich abschließen konnte. Erst als der Gong das Ende der Pause ankündigte, wagte ich mich wieder hinaus.
Gerade wollte ich zurück in meine Klasse gehen, als mich im Flur vor den Toiletten unvermittelt ein Geruch traf: Schweiß, muffige Gewürze und fauliges Holz.
Sein Geruch.
Mein Denken setzte aus, in meinem Kopf formte sich wie ein Schrei nur ein einziges Wort: Lauf!
Wie ein gehetztes Tier rannte ich los, blind für alles, was um mich herum geschah. Unvermittelt prallte ich gegen ein Hindernis. Ich strauchelte und