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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass es offenbar mein kleiner Bruder gewesen war, der auf mir gehockt hatte. Ehe ich reagieren konnte, wurde die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen und meine Mutter stürmte herein.
    »Was zum Kuckuck ist hier los?«, rief sie und hob den brüllenden Julius vom Boden auf. »Ist dir was passiert, mein Schatz?«, fragte sie und drückte ihn an sich.
    Er war jedoch nicht zu beruhigen. Er heulte wie eine Feuersirene und ich hörte zwischen lauten Schluchzern nur die Worte »Lila«, »Balu machen« und »Aua« heraus.
    Meine Mutter verstand natürlich nur Bahnhof, aber ich reimte mir zusammen, dass mein kleiner Bruder wohl in mein Zimmer geschlichen war, um mit mir das »Dschungelbuch« nachzuspielen: Ich sollte offenbar Balu der Bär sein und er Mogli, der auf Balus Bauch saß. Doch statt »probier’s mal mit Gemütlichkeit« gab es einen hysterischen Anfall der großen Schwester. Armer Julius.
    Glücklicherweise war er noch »ein Auslaufmodell«, wie mein Vater immer scherzte, und trug daher eine Windel. Damit war wenigstens sein Po gut gepolstert, sodass er sich beim Fallen kaum wehgetan haben dürfte. Trotzdem hatte ich ihn bestimmt fast zu Tode erschreckt, als ich schreiend wie eine Furie hochgefahren war.
    »Tut mir leid, Hase«, sagte ich zerknirscht, doch er ließ sich nicht beruhigen.
    Meine Mutter sprach leise auf ihn ein und trug das knallrote, heulende Bündel aus meinem Zimmer, wobei sie mir über die Schulter einen strafenden Blick zuwarf.

    Kommissarin Monika Held war müde und hatte schlechte Laune. Zu allem Überfluss hatte die Kaffeemaschine im Präsidium gerade beschlossen röchelnd den Geist aufzugeben. Am liebsten wäre Monika wieder ins Bett gekrochen und hätte sich für den Rest des Tages die Decke über den Kopf gezogen. Sie war frustriert: Da arbeitete sie alle Unterlagen zweimal durch, machte Überstunden ohne Ende – und wofür? Im Mordfall Viktoria Neubauer war sie keinen Schritt vorangekommen.
    Halt, das stimmt nicht, ermahnte sie sich selbst. Einige neue Erkenntnisse gab es, aber keine heiße Spur.
    Um nicht in einer Depression zu versinken, die so grau und schwer war wie die Herbstregenwolken, die draußenüber einen bleiernen Himmel fegten, rief Monika sich ins Gedächtnis, was sie bisher herausgefunden hatte: Viktoria hatte sich unbemerkt von ihrer Mutter aus dem Staub gemacht. Der war am nächsten Morgen aufgefallen, dass ihr Zimmerfenster offen stand. Das Mädchen war zuletzt bei der Schulparty gesehen worden, wo sie danach hingegangen war, wusste angeblich niemand. Allerdings hatte sich der Hausmeister der Schule kurz darauf bei der Polizei gemeldet. Das Türschloss des Aufenthaltsraums der Oberstufe wies Kratzer auf und war offensichtlich beschädigt. Jemand hatte sich demnach mit einem spitzen Gegenstand – Nagelfeile oder Taschenmesser – gewaltsam Zutritt zu dem normalerweise versperrten Raum verschafft. Außerdem lagen laut Aussage des Hausmeisters auf dem Sofa und dem Fußboden zerknautschte Kissen und eine zerwühlte Decke. Da er jeden Abend die Räume kontrollierte und zusperrte, deutete alles darauf hin, dass am Abend der Party jemand das Schloss geknackt und dort übernachtet hatte. Viktoria Neubauer?
    Die Spurensicherung hatte alles durchkämmt und tatsächlich ein rotes Haar auf einem der Kissen sichergestellt. Eine DNA-Analyse brachte die Gewissheit, dass es von Viktoria stammte. Da der Aufenthaltsraum während der Schulzeit allerdings regelmäßig von der gesamten Oberstufe genutzt wurde, konnte das Haar auch schon vorher dorthin gekommen sein. Zudem würde es Wochen dauern, die zahlreichen Fingerabdrücke und möglichen DNA-Spuren in dem Raum zu sichern und auszuwerten. Die Nadel im Heuhaufen zu suchen war die reinste Ostereiersuche dagegen, dachte Monika und seufzte. Der Knackpunkt war und blieb der verschwundene Laptop. Die Freundin, Elina May, hatte bezeugt, dass Viktoria ihnnicht bei sich hatte, als sie kurz vor der Schulparty bei ihr vorbeigekommen war. Folglich hatte sie ihn entweder vorher bereits irgendwo deponiert, was unwahrscheinlich war, oder sie musste doch noch einmal zu Hause gewesen sein. Vielleicht mitten in der Nacht, vielleicht auch ganz früh am nächsten Morgen. Ihre Mutter hatte bei der Befragung angegeben, manchmal ein leichtes Schlafmittel zu nehmen. Das könnte erklären, wieso sie ihre Tochter nicht gehört hatte.
    Monika rieb sich die Augen. Wie so oft hatte sie das Gesicht der Mutter vor sich: voller

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