Schlehenherz
wäre beinahe hingefallen, als ich an den Armen gepackt und festgehalten wurde. Ich schrie und wand mich panisch aus der Umklammerung. Er durfte mich nicht kriegen, denn dann würde Er mich umbringen …
»Elina, jetzt beruhige dich doch! Was ist denn los?«
Ich war zwei Schritte zurückgewichen und blickte keuchend auf – direkt in die verwunderte Miene unseres jungen Spanischreferendars. Ich musste mit voller Wucht in ihn hineingelaufen sein, denn er rieb sich seine offenbar schmerzende Schulter.
Einige Schüler waren stehen geblieben und starrten zu mir herüber. Unter ihnen erkannte ich schemenhaft Grovers blauen Schopf. Ich wollte etwas sagen, erklären, dass Vios Mörder hier war, dass ich ihn am Geruch erkannt hatte – doch ich brachte kein Wort heraus. Übelkeit schwappte wie eine heiße Welle in mir hoch. Vios Kette schien sich zuzuziehen, immer enger zu werden und der Anubis-Anhänger drückte auf einmal schwer und heiß auf meine Kehle. Krampfhaft rang ich nach Luft.
»Elina. Ist dir nicht gut?«
Die Stimme des jungen Lehrers drang wie durch Nebel inmein Bewusstsein. Doch plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke wie ein greller Blitz: Was, wenn er der Maskenmann aus dem Moor war? Schließlich hatte er im Gang gestanden – vor den Toiletten, wo mich der Geruch überwältigt hatte. Erneut stieg Panik in mir hoch, meine Beine zitterten und mir war eiskalt. Da spürte ich seine Hand auf meinem Arm: »Ich glaube, wir rufen deine Mutter an, in Ordnung?«
Er stand nun direkt vor mir und ich roch sein Rasierwasser: ein frischer, herber Duft wie blauer Himmel und ein Tag am Meer. Ich wollte ihn beruhigen, dass ich okay war und er sich keine Sorgen machen sollte. Doch da schlich sich, leise wie eine Katze an das Mauseloch, der Gedanke in mein Bewusstsein: Wenn ich den Geruch des Maskenmanns wahrgenommen hatte, bedeutete das, er war in der Schule – und damit in meiner unmittelbaren Nähe.
Alles begann sich um mich zu drehen und hinter meinen Augenlidern explodierten rote Funken. Im nächsten Augenblick versank ich in samtschwarze Dunkelheit.
Als ich im Krankenzimmer unserer Schule wieder zu mir kam, lag die kühle Hand einer älteren Lehrerin auf meiner Stirn. Mir war immer noch schwummrig. Trotzdem sah ich, wie besorgt sie guckte, als ich mühsam »Hallo« krächzte wie eine angeschossene Krähe.
»Wir haben deine Mutter angerufen, damit sie dich abholt«, sagte die Lehrerin, deren Name mir partout nicht einfallen wollte. Vage erinnerte ich mich, sie mal in der fünften Klasse als Vertretung in Englisch gehabt zu haben.
Ehe ich noch weiter darüber grübeln konnte, hörte ich das Klappern von Absätzen auf dem Gang, die sich rasch näherten und dann stand auch schon meine Mutter im Zimmer. Sie war blass und ich bekam sofort ein schlechtesGewissen. Daher beeilte ich mich zu versichern: »Kein Panik, mir geht’s gut!«
Meine Mutter trat ans Kopfteil der Liege, auf die man mich gelegt hatte. Sie musterte mich so eindringlich, als wolle sie ein Röntgenbild von mir machen. Prompt fühlte ich mich bis auf die Knochen durchschaut.
»Am Telefon hat man mir gesagt, du bist in der Pause umgekippt. Was ist denn passiert, war dir schlecht?«, fragte sie, aber ich spürte hinter dem sachlichen Ton ihre Sorge.
Wahrheitsgemäß nickte ich. Was der Auslöser für meine Übelkeit war, sagte ich natürlich nicht.
Auf wackelpuddingweichen Beinen eierte ich auf sie gestützt zum Auto und ließ mich erleichtert auf den Beifahrersitz fallen. Ich war in Sicherheit.
Während der Fahrt blickte meine Mutter immer wieder angespannt zu mir rüber. Ich versuchte sie mit einem Lächeln zu beruhigen, aber es wurde wohl eher ein Zähnefletschen, denn ihre Miene wurde noch ernster. Also schloss ich lieber die Augen. Am liebsten wäre ich nie mehr ausgestiegen, sondern immer weitergefahren, geschützt wie in einem Kokon, während der Wagen monoton brummte und meine Anspannung langsam nachließ. Doch da wurde der Motor abgestellt. Wir waren zu Hause.
Meine Mutter packte mich sofort ins Bett. Sie machte mir eine Tasse heiße Milch und setzte sich auf den Rand meiner Matratze, während ich vorsichtig an der heißen Flüssigkeit nippte, um mir nicht den Mund zu verbrennen.
Meine Mutter schien nach Worten zu suchen. Als sie anfing zu sprechen, klang sie wie eine Krankenschwester, die einem Patienten eine schlechte Nachricht überbringen muss: »Lila, wenn es irgendwas gibt, worüber du mit mir reden willst …«, fing sie an.
Ich
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