erleiden und einen irreparablen, seelischen Schaden davontragen. Gute Gelegenheit für meine Mutter, diesen Psychologen gleich noch mal einzuladen.
Gerade als ich mir wütend den ganzen Lidschatten – »Magic Anthracite« – mit einem Papiertuch abwischte, gab mein PC ein Geräusch von sich. Mit verschmierten Augen flitzte ich zum Bildschirm und klickte hastig auf »Neue Mail lesen«.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: – –
Die Träne, die du beim Gebete weinst
Verklärt dein Angesicht.
Doch dein Lächeln
Pflückt sich ein Engel aus den Winkeln
Deines Mundes.
(Else Lasker-Schüler)
Ich musste tatsächlich lächeln. »Blauer Reiter« war echt ein bisschen durchgeknallt, aber wenigstens war er wieder online. Ich trat vor mein Bücherregal und fuhr mit dem Zeigefinger die Buchrücken entlang. Irgendwo hier musste noch ein Gedichtband stehen, den mir meine Großmutter vor Jahren mal geschenkt hatte – in der irrigen Annahme, ich würde mich mit zwölf Jahren für Hermann Hesse und Goethe begeistern. Sicher wäre sie begeistert, mit welchem Eifer ich inzwischen die Gedichte von Else Lasker-Schüler las. Endlich hatte ich das schmale Bändchen gefunden und zog es heraus.
Gerade blieb ich bei einem Gedicht von Theodor Storm, »O bleibe treu den Toten«, hängen, als es klopfte. Ich schnaubte gereizt. Hastig steckte ich mir das Büchlein vorne in den Hosenbund und zog den Pulli darüber, ehe ich zur Tür ging und öffnete. Meine Mutter hielt mir den Hörer des Telefons hin und sagte nur knapp: »Für dich. Die Polizei ist dran.«
Erstaunt und auch etwas erschrocken nahm ich das Telefon und meldete mich. Die kühle, beherrschte Stimme der Kommissarin drang in mein Ohr: »Hallo Elina, Monika Held am Apparat. Ich habe noch eine Frage: Wissen Sie, ob Viktoria je bei schülerVZ aktiv war?«
Ich zuckte zusammen. Wie war die Kripo darauf gekommen, dass Vio gelistet gewesen war? Und: Wenn sie bei schülerVZ recherchiert hatte, wusste die Kommissarin garantiert schon, dass ich mich vor Kurzem ebenfalls dort angemeldet hatte. Schöpfte sie Verdacht oder hatte sie meinen Plan, im Netz nach Vios Mörder zu suchen, bereits durchschaut? Ich überlegte fieberhaft.
»Elina? Sind Sie noch dran?« Ihre Stimme hatte einen ungeduldigen Unterton.
»Äh, ja, das heißt nein. Also, ich bin noch dran. Aber dass Vio bei schülerVZ angemeldet ist, wusste ich nicht«, schwindelte ich.
Vorsichtshalber fügte ich hinzu: »Ich habe sie allerdings dort auch nicht gesucht. Weil, ich habe mich ja erst angemeldet, als sie … also nachdem …«
»Sie hätten Ihre Freundin auch nicht gefunden. Jemand hat nämlich direkt nach ihrem Tod ihr Profil gelöscht«, unterbrach mich die Kommissarin.
Das hatte ich ja auch schon festgestellt. Nur auf den Zeitpunkt hatte ich nicht geachtet. Auf die Idee, dass Vio sich nicht selbst – und vor allem nicht freiwillig – bei schülerVZ gelöscht hatte, war ich nicht gekommen. Ich spürte, wie mich ein Schauer überlief, als würde ein kalter, unsichtbarer Geisterfinger mein Rückgrat entlangfahren.
»Haben Sie eine Ahnung, in welchen Internetforen Viktoria sonst noch aktiv war?«, hörte ich die sachliche Stimme.
Diese Frage konnte ich wahrheitsgemäß mit »Nein« beantworten. Vio hatte tatsächlich nie erwähnt, in welchen virtuellen Welten sie sich herumtrieb.
»Gut, Elina. Falls Ihnen noch was einfällt – meine Telefonnummer haben Sie ja«, sagte die Kommissarin geschäftsmäßig.
Ich konnte meine Neugierde nicht zügeln, nun selbst eine Frage zu stellen: »Heißt das, Sie haben Vios Laptop immer noch nicht gefunden?«, wagte ich mich vor.
»Nein. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss hier weitermachen. Danke für Ihre Auskunft. Und – Elina?« Plötzlich klang die Stimme am anderen Ende fast freundlich.
»Ja?«, fragte ich gespannt.
»Passen Sie auf sich auf, ja? Sie wissen ja: Man kann im Netz niemandem vertrauen.«
Es knackte in der Leitung und sie hatte aufgelegt.
Ich hielt den Hörer in der Hand und schüttelte den Kopf: Die hatte doch keine Ahnung. Wem ich nicht vertrauen konnte, waren die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung. Bei schülerVZ schickte mir keiner einen Psychologen auf den Hals oder hetzte mich durchs Moor, in der Absicht, mich zu töten. Im Netz hielt mich niemand für verrückt oder krank.
Bei diesem Gedanken durchflutete mich eine wohlige Wärme, wie der erste Schluck heißer Kakao mit Schlagsahne, wenn die