Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
in eine Tiefe, aus der ich nicht mehr auftauchen konnte.
    »Magst du das Ende nicht?«
    Nein, ich mochte es nicht und war schon drauf und dran, »Blauer Reiter« einfach wegzuklicken oder ihm eine entsprechend giftige Replik zu schicken – doch dann zögerte ich. Was hatte er mir getan, dass ich so gereizt war? Die Antwort gab ich mir gleich selbst: Der Schreiber hatte den Finger in eine Wunde gelegt, von der er nicht ahnenkonnte, dass es sie gab und wie frisch sie noch war. Es war ohne böse Absicht geschehen, und ich beschloss, die Wahrheit zu sagen – oder zumindest einen kleinen Teil davon.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: AW: fehlende Zeilen

    Hallo »Blauer Reiter«,
    gut geraten. Zu viele Ratten, blaue Tote und bitteres Brot für meinen Geschmack …
    Gibt es von dieser Dichterin auch fröhlichere Poems?
    Schlehenherz

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: RE: AW: fehlende Zeilen

    Warum? Beweinst du auch eine blaue Tote, Schlehenherz?

    Nur diese eine Frage, doch die traf mich bis ins Mark. Wieder hatte »Blauer Reiter« offenbar zwischen meinen Zeilen gelesen und mit schlafwandlerischer Sicherheit die Wahrheit erahnt. Aber statt wieder wütend zu sein, fühlte ich mich plötzlich verstanden.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: RE: AW: RE: fehlende Zeilen

    Ja, tue ich. Hast du so was wie den sechsten Sinn?

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: RE: AW: RE: AW: fehlende Zeilen

    Nein. Aber vielleicht hat jeder eine »blaue Tote« …?

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: RE: AW: RE: AW: fehlende Zeilen

    Du auch?

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: RE: AW: RE: AW: RE: AW: fehlende Zeilen

    Mein bester Kumpel. Motorradunfall.

    Deshalb hatte er also irgendwie geahnt, was mit mir los war. Auf seltsame Art und Weise fühlte ich mich mit »Blauer Reiter« verbunden. Vielleicht gerade weil er nicht herumsülzte und klebriges Mitgefühl verbreitete, so wie einige andere, die mir entweder mit eigenartiger Scheu oder übertriebener Anteilnahme begegneten. Bestimmt ging es ihm mit dem Tod seines besten Freundes ähnlich. Ich wollte auf keinen Fall denselben Fehler wie die anderen machen. Aber was konnte ich ihm antworten? »Willkommen im Club«? Zu kaltschnäuzig. Von Vio erzählen und dass sie ermordet wurde? Das war mir zu persönlich. Vielleicht fand ich ja bei Else Lasker-Schüler etwas. Ich surfte ein wenig im Internet herum und tatsächlich stieß ich auf eines ihrer Gedichte, das wie für Vio und mich geschrieben schien.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: all die blauen Toten

    Unter der Wehmut der Esche
    Lächeln die Augen meiner Freundin.
    Und ich muss weinen
    Überall wo Rosen aufblühn.
    Alle Träume lauschen gebannt hinter den Hecken
    Kann nicht Morgen werden
    Und meine Freundin küsst taumelnd den Rosigtau
    Unter dem Düster des Trauerbaums.

    In dieser Nacht suchten mich keine Albträume heim. Ich schlief das erste Mal seit Langem tief und traumlos bis zum Weckerklingeln am nächsten Morgen.
    Nessie wartete schon und einträchtig gingen wir zur Schule. Das halbe Gymnasium lag mit Grippe flach. Unseren Spanischreferendar hatte es erwischt und sogar der Schulkiosk war wegen Krankheit geschlossen, wie ein Schild verkündete. Nicht mal Grovers blaue Haare konnte ich entdecken.
    Die restlichen Schüler standen fröstelnd und schniefend auf dem nassklammen Pausenhof herum und verbreiteten schlechte Laune. Ich war die Einzige, der es die Stimmung nicht verhagelte, denn inmitten von Nessies und Alex’ Clique fühlte ich mich beschützt und unangreifbar. Eine wohltuende Normalität machte sich in mir breit, als ich im Klassenzimmer saß und den Ausführungen unseres Mathelehrers lauschte. Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, dass es Mittag wurde und ich nach Hause kam – an meinen Computer. Denn dort wartete vielleicht eine neue Mail von »Blauer Reiter« auf mich.
    »Lila, so geht das nicht weiter. Ich verstehe ja, wenn du sauer bist, aber rede wenigstens mit mir!«
    Meine Mutter stand in meinem Zimmer, und ich sah ihr an, dass sie mich am liebsten gepackt und geschüttelt hätte. Das Mittagessen hatte ich ebenso schweigend ausfallen lassen wie das Frühstück heute Morgen. Ich wollte nicht mit ihr am Tisch sitzen

Weitere Kostenlose Bücher