Augen brannten, als ich die Mail von »Blauer Reiter« las. Er drückte genau das aus, was ich gegenüber Vio empfand: tiefste Trauer, aber auch Schuldgefühle und die Frage, was gewesen wäre, wenn …
Dass mein Internet-Poet nicht ganz sicher in der Rechtschreibung zu sein schien – »Schiksal« und »dass« mit einem »s« ließen nicht gerade auf eine gute Note in Deutsch schließen – störte mich nicht, vielleicht hatte er auch in der Eile ein paar Buchstaben vergessen.
Was mich berührte, war der Inhalt seiner Mails. Es war, als stünde ich vor einem Spiegel und schriebe an mich selbst, und mein Spiegelbild würde mir antworten.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: AW: Vergissmeinnicht
Hallo Blauer Reiter,
yes, das Leben ist unfair und der Tod ist ein A…loch. Ich kenne das, bin auch oft wütend auf das Schicksal oder Gott oder wer da auch immer die Fäden zieht. Weißt du, meine Freundin ist nicht durch Krankheit oder bei einem Unfall gestorben. Sie wurde umgebracht. Und genau wie du frage ich mich, ob ich es hätte verhindern können. Und am Schlimmsten ist es, dass ich auf diese Frage wohl nie eine Antwort kriegen werde.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: AW: RE: Vergissmeinnicht …
»Wir Menschen halten doch immer nur die Fäden in den Händen, das Schicksal aber webt, wie es will.«
Hab ich mal gelesen. Tröstet’s dich?
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: RE: AW: RE: Vergissmeinnicht
Bisschen, ja. Cool, dass du mich verstehst. Bis bald!
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: AW: RE: AW: RE: Vergissmeinnicht …
Ja. Bis bald …!
November: Totenmonat, Grablichterzeit. Die Bäume hatten endgültig ihre Blätter verloren und standen schwarz und glänzend im regenfeuchten Allerheiligengrau. Nur dieflackernden Kerzen der »ewigen Lichter« auf dem Friedhof waren wie kleine, warm-rot-leuchtende Zylinder inmitten der Farblosigkeit dieses Nebeltages. Ich war mit Vios Mutter auf dem Friedhof. Nicht einmal dorthin traute ich mich alleine, zu groß war meine Furcht, hinter einem der Grabsteine könnte er stehen und mir den Tod bringen.
Ich hatte ein Sträußchen Astern und Dahlien dabei, deren dunkelrote, orangefarbene und violette Blütenköpfe tapfer im bleiernen Tageslicht strahlten.
Vios Mutter kniete am Rand des Grabes. Sie zupfte hier einen letzten Grashalm heraus, der sich so spät im Jahr noch durch die schwarze Erde gekämpft hatte, und rückte dort den kleinen Porzellanengel zurecht, der unter dem schlichten Holzkreuz wachte, auf dem nichts weiter als »Viktoria«, das Geburtsdatum und das Todesjahr standen. Zuletzt drückte sie behutsam und liebevoll die grüne Plastikvase, in der meine Blumen standen, etwas tiefer in den Boden, damit sie nicht umfallen konnte.
Nach Vios Tod kümmerte sich ihre Mutter intensiver um sie als zu Lebzeiten, dachte ich und schämte mich sofort dafür.
Schwerfällig richtete sie sich auf. Sie sah erschöpft und müde aus. Als hätte sie all ihre Energie verbraucht. Ein paar Minuten standen wir schweigend nebeneinander.
»Manchmal kann ich es immer noch nicht glauben, dass meine Kleine jetzt da liegt«, durchbrach sie schließlich die Stille. »Ich stehe morgens auf und will immer noch als Erstes zu ihr ins Zimmer laufen, um sie zu wecken. Und wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, habe ich oft schon Luft geholt um ›Hallo‹ zu rufen, bis mir einfällt, dass sie ja nicht mehr da ist …«, sagte sie und ihre Stimme stockte.
Ich konnte nur nicken. Ein Kloß saß mir in der Kehleund die Tränen stiegen mir heiß in die Augen. Ich wusste genau, wie sie sich fühlte. All die vertrauten Dinge miteinander, die so selbstverständlich und zu einem lieb gewonnenen Ritual geworden waren, wie zum Beispiel das frühmorgendliche Warten auf die immer verschlafene, trödelnde Vio – das alles war mit einem Schlag weg. Mein Herz fühlte sich wund und zerfetzt an, als hätte man ein Foto mittendurchgerissen und einen Teil einfach weggeworfen. Und bei der anderen Hälfte blieben nur die weiß gezackten, unregelmäßigen Ränder, die von dem Verlust zeugten.
Schweigend hakte ich Vios Mutter unter, und auf mich gestützt ging sie langsam den Weg entlang, widerwillig, als wolle sie Vio nicht alleine lassen. Ich drückte fest ihren Arm: »Die Polizei wird den finden, der das getan hat, Frau Neubauer.