Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben
Schach? Und dann auch noch gegeneinander? Wahrscheinlich wollte Willy mich testen. Ich hatte das mal in einem Bewerbungsratgeber gelesen, dass man sich gerade am Anfang eines Jobs auf keinen Fall auf derlei Angebote einlassen sollte, die Arbeit wie alle Kollegen etwas nachlässiger anzugehen. Das konnte eine Falle sein. Willy grübelte weiter nach einem Zeitvertreib für mich: »Bereite doch deinen nächsten Urlaub vor. Du ahnst gar nicht, auf welche Schätze man treffen kann, wenn man genügend Zeit hat, sich durch die Lonely-Planet-Community zu lesen. Oder die Meinungen bei Tripadvisor zu studieren. Kann ich dir nur empfehlen. Wenn du mal nach Thailand willst, ich kenne mittlerweile alle guten Strandressorts, in denen man gewesen sein muss.«
Auch diese schon etwas verlockendere Aussicht wollte mir nicht so richtig gefallen. Das konnte man doch nicht machen. Willy, der sah, dass er meine Zweifel nicht beseitigt hatte, meinte nur, ich solle mich entspannen, und mir würde sicher ein sinnvoller Zeitvertreib einfallen.
»Wir nennen es Arbeit«, lachte er und ließ mich ungläubig zurück.
Am Abend erzählte ich Francesca von dem Gespräch mit Willy.
»Was regst du dich auf? Ich finde dieses Zeitmanagement praktisch … sehr italienisch. Wir machen das seit mehr als zweitausend Jahren so. Und wir haben immerhin die Welt zivilisiert. Vergiss nicht, ohne uns Italiener wärt ihr immer noch Barbaren, die im Wald leben.«
»Wie bitte? Ihr habt von uns einen Tritt in den Hintern bekommen, und schwupps ging’s wieder rüber über die Alpen.«
»Ach, es hätte sich eh nicht gelohnt, euch zu erobern …«, gab Francesca schnippisch zurück.
»Wieso denn nicht?«
»Viel zu schlechtes Wetter.« Francesca schüttelte sich und tat, als würde ihr ein kalter Wind aus der sibirischen Tundra um die Nase fegen. Ich liebe diese Diskussionen mit ihr. Ich weiß nicht, warum, aber ich liebe sie.
Willy hatte nicht gelogen. Tatsächlich folgte das Arbeitszeitmodell im Verlag ganz eigenen Gesetzen, die zu einem ständigen Auf und Ab führten. Das Merkwürdige war, dass die Kollegen selbst in hektischen Zeiten, in denen es jede Menge zu tun gab, die Ruhe selbst waren, immer ein fatalistisches »Ja mei!« auf den Lippen. Das »Ja mei« scheint so etwas wie der Schlüssel zur bayerisch-münchnerischen Gemütsruhe zu sein. Eine Art Mantra, das ständig wiederholt wird, um sich der Nichtswürdigkeit der eigenen Existenz zu vergewissern und darauf zu verweisen, dass man einer Macht ausgeliefert ist, die größer ist als man selbst.
»Wir hätten bis gestern die Informationen aus dem Staatsarchiv für die Geschichte über die englische Königsfamilie gebraucht. Wieso sind die noch nicht da?«
»Ja mei …«
»Das Autoreninterview auf Seite 16 muss zwei Zeilen länger werden. Da ist eine Anzeige rausgefallen!«
»Ja mei …«
»Wieso steht die Milch in der Küche schon wieder draußen? Ist es denn so schwer, die in den Kühlschrank zu stellen, nachdem man sie benutzt hat?«
»Ja mei …«
»Und wieso sieht es in der Männertoilette eigentlich immer so aus wie in der Abfalltonne einer Metzgerei?«
»Ja mei …«
Die Welt ist nun einmal so, wie sie ist. Da kann man nichts machen.
Es konnte natürlich aber auch sein, dass die Kollegen einfach nicht wollten oder konnten. Oder dass ihnen wirklich alles egal war. Ja mei, wer weiß das schon so genau.
Neben der beschaulichen Lebenseinstellung gab es noch etwas, das mich an meinen neuen Kollegen faszinierte. Denn Münchner ist nicht gleich Münchner. Da gibt es sehr große Unterschiede, denn jeder Münchner glaubt, er lebe im schönsten Viertel der Stadt. Würde der Münchner seinen Ehepartner genauso lieben wie sein Stadtviertel, wäre die Scheidungsrate gleich null. Umzüge sind dem Münchner ein Graus, und sie werden nur gemacht, wenn es gar nicht anders geht. Noch schlimmer, als in ein anderes Stadtviertel zu ziehen, ist es für den echten Münchner, seinen Wohnort auf die andere Seite der Isar verlegen zu müssen. Dabei geht es nicht etwa darum, dass eine Isarseite schöner wäre als die andere. Nein, ein Umzug auf die andere Seite des Flusses geht einfach nicht. Egal, auf welcher Seite der Isar man wohnt. Warum? Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Es ist mehr so ein Bauchgefühl. Und wenn der Bauch spricht, dann hört man in Bayern genau hin. Die Folge dieser mysteriösen Sesshaftigkeit ist ein ausgeprägter Stadtteilpatriotismus. Münchner ist der Münchner vor allem nach
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