Schleichendes Gift
wahrscheinlich Dutzende von Opfern gefordert hatte. Und traumatisch genug für ihr Team, ohne dass es sich mit einem Haufen Leute von außerhalb herumschlagen musste, die sich vor Ort nicht auskannten und keine Verantwortung für ihre Maßnahmen zu übernehmen brauchen. Denn sie würden nicht diejenigen sein, die sich mit den Folgen zerstörter Beziehungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen befassen mussten, sie würden nicht damit konfrontiert sein, was zwischen diesen Gemeinschaften und denen lief, die sie dann im Zaum halten mussten.
»Gibt es schon Zahlen?«, fragte Carol, denn sie wusste, es war sinnlos, sich bei Brandon zu beklagen, der in der Sache genauso machtlos war wie ihr Team.
»Mindestens zwanzig. Aber es werden noch welche dazukommen.«
»Und der Rest der Leute? Wohin evakuieren wir die?«
»Der Katastrophenplan schreibt die Sportplätze der Schulen weiter unten an der Grayson Street vor. Aber ich vermute, die meisten werden sehen, dass sie möglichst weit vom Stadion wegkommen. Es wird ein Alptraum sein, in dieser Sache Zeugenaussagen zu sammeln.«
»Wir werden unser Bestes tun. Ich muss Schluss machen, wir sind fast da«, sagte Carol, denn sie erkannte die schwankende Umgebung vor der Windschutzscheibe. Menschen strömten an beiden Seiten vorbei, und der Krankenwagen musste im Schritttempo fahren. Es war wie in einem dieser Kriegsfilme, in dem eine Armee von Flüchtlingen verzweifelt vor dem Feind zu fliehen versucht.
Endlich hatten sie es bis zum Parkbereich hinter der Vestey-Tribüne geschafft. Die Wagen, die dort standen, waren schon von Polizei- und Feuerwehrautos eingeschlossen, die darauf vorbereitet waren, schnellstmöglich zu starten. Gerade als Carol aus dem Wagen sprang, raste einer der Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene an ihnen vorbei.
Von außen sah das Stadion praktisch unverändert aus. Auf der äußeren Wand der hochragenden Tribüne war ein kleines Loch, das aber harmlos wirkte. Der Schlüssel zu diesem Geschehen lag woanders. Schläuche von den Löschfahrzeugen und den Hydranten des Stadions wanden sich auf dem Boden entlang und durch die Drehkreuze ins Innere. Feuerwehrmänner, die in ihrer Schutzkleidung wie Astronauten aussahen, gingen zielbewusst auf die Tribüne zu. Sanitäter eilten mit verschiedenen Teilen ihrer Ausrüstung hin und her. Und immer wieder wurden die Verletzten, Sterbenden und Toten von Sanitätern und Polizisten herausgetragen oder auf Tragbahren transportiert.
Carol konnte es kaum fassen. Bradfield glich Beirut. Oder Bangladesch. Oder sonst einem weit entfernten Ort aus den Nachrichten. Es sah wie die Nachwirkungen einer Naturkatastrophe aus, die alle total unvorbereitet getroffen hatte. Niemand wusste, was wirklich getan werden musste, aber es war das Wichtigste, es zu tun. Die Leute liefen herum, manche mit Zweck und Ziel, andere eher ohne.
Und mitten im Geschehen die Verwundeten, die Sterbenden und die Toten.
Sie raffte sich auf. Sie musste herausfinden, wer hier die Leitung hatte, musste ihr Team sammeln und alles tun, was sie konnte, um den Explosionsort zu sichern. Zuerst steckte sie ihren Dienstausweis außen an ihrer Jacke fest. Dann ging Carol auf den nächsten uniformierten Polizisten zu. Er hatte gerade einem älteren Mann, dem Blut über eine Gesichtshälfte lief, in einen Krankenwagen geholfen und wollte wieder zur Tribüne zurückeilen.
»Constable«, rief sie und rannte die kurze Entfernung zu ihm hinüber. Er hielt an und drehte sich um. Sein Gesicht hatte Schmutz- und Schweißflecken, seine Uniformhose war völlig verdreckt. »DCI Jordan«, stellte sie sich vor. »Vom Sondereinsatzkommando. Wer ist hier der Einsatzleiter?«
Er sah sie mit glasigen Augen an. »Superintendent Black.«
»Wo finde ich ihn?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung. Ich war da oben …« Er wies mit dem Arm auf die Tribüne. »An Spieltagen ist er gewöhnlich auf dem oberen Deck. Er hat eine Kabine oben beim Medienzentrum. Soll ich es Ihnen zeigen?«
»Geben Sie mir nur die Richtung an«, schlug Carol vor. »Sie haben offensichtlich Wichtigeres zu tun.«
Er nickte. »Das könnte man sagen. Gehen Sie die Treppe am Ende ganz hoch. Es ist die erste hier links.«
An der Mündung des Treppenhauses traf sie auf einen jungen Constable, der vollkommen verstört aussah. »Sie können da nicht rauf«, faselte er. »Niemand darf da rauf. Es ist nicht sicher, die Hunde haben das noch nicht untersucht. Niemand da rauf. Befehl vom
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