Schleichendes Gift
Absicht nicht die Toten. Beide würden sie die Opfer nicht so bald vergessen. Aber es war nicht nötig, sie in den Vordergrund zu rücken. Das Letzte, was Tony wollte, war, Sanjar noch stärker in die Defensive zu drängen.
Sanjars Mund zuckte und straffte sich dann zu einer geraden Linie. Einige Zeit verstrich, bevor er schließlich antwortete: »Ich weiß nicht. Es ergibt keinen Sinn.«
»Ich weiß, es wird sich verrückt anhören«, begann Tony. »Aber ist es möglich, dass er dafür bezahlt wurde?«
Sanjar sprang auf und trat einen Schritt auf Tony zu, die Hände zu Fäusten geballt. »Was soll das? Wollen Sie damit sagen, mein Bruder sei ein Auftragskiller gewesen oder was? Scheiße. Sie sind genauso verdreht im Kopf wie die Dreckskerle, die sagen, er sei ein Fanatiker gewesen.«
»Sanjar, Sie brauchen sich nicht so zu benehmen, als müssten Sie die Familienehre verteidigen. Nur Sie und ich sind hier. Ich muss Ihnen die Frage stellen, weil einiges darauf hinweist, dass Yousef dachte, er würde den gestrigen Nachmittag überleben. Dass er in der Lage sein würde, danach das Land zu verlassen. Und das ist ja nicht die Geistesverfassung eines Selbstmordattentäters. Ich muss deshalb versuchen, eine andere Erklärung zu finden. Okay? Nur das tue ich.«
Sanjar ging erregt auf und ab. »Sie haben den Falschen erwischt, Mann. Yousef war doch ein gutmütiger Typ. Er war der letzte Mann auf dem Planeten, der ein Killer hätte sein können.« Er schlug mit der Faust auf seine Handfläche. »Er ist nie in einem Ausbildungslager gewesen. Er war niemals in Pakistan oder Afghanistan. Verdammt, wir waren ja nicht mal im verflixten Lake District oder den Dales.« Er legte die Hände auf seine Brust. »Wir sind friedliche Menschen, ich und Yousef.«
»Er hat diese Leute umgebracht, Sanjar. Daran gibt es nichts zu deuteln.«
»Und es ergibt keinen Sinn«, murmelte Sanjar. »Ich weiß nicht, wie ich Sie dazu bringen soll, das zu verstehen.« Plötzlich hielt er inne und starrte auf den Tisch, auf dem jetzt Tonys alter Laptop stand. »Haben Sie kabellosen Internetzugang? Kann ich Ihren Computer einschalten? Ich will Ihnen etwas zeigen.«
»Nur zu.«
Sanjar wartete, bis der Rechner hochgefahren war, und klickte sich dann zu einem Blog namens DoorMAT, das Portal für Muslime gegen Terrorismus, durch. Inzwischen hatte es Tony geschafft, aufzustehen und herüberzukommen. Er lehnte sich ans Sofa und sah auf den Bildschirm. Auf der Startseite tippte Sanjar eine E-Mail-Adresse ein. »Sehen Sie«, sagte er. »Yousefs Adresse, nicht meine.« Als das Passwort verlangt wurde, gab er »Transit350« ein. Er sah zu Tony hinüber. »Wir nehmen immer unsere Autos als Passwort. So vergessen wir es nicht.« Als er auf der Website angelangt war, klickte Sanjar einige Male mit der Maus, und eine Liste von Yousefs Beiträgen zum Blog erschien. Sanjar klickte aufs Geratewohl herum.
Okay, Salman31, ich lebe nicht in einer Stadt, in der die British National Party im Stadtrat sitzt. Aber ich weiß, wenn es so wäre, würde ich anders protestieren als der Pöbel auf den Straßen in Burnley und damit bessere Schlagzeilen machen. Die BNP-Schläger benehmen sich wie Wilde, das erwarten die Leute von Proleten mit rasierten Schädeln. Niemand regt sich über sie auf, aber wenn wir das Gleiche tun, haben wir plötzlich unseren guten Ruf verloren, sollten es besser wissen und so weiter und so fort. Wir müssen besser sein als sie, unbedingt müssen wir das.
»Wenn Sie seine Beiträge durchgehen, werden Sie sehen, dass alle so sind. Das hört sich nicht gerade nach einem Auftragskiller an, oder?«
»Nein«, pflichtete Tony bei und dachte, wie gern er einige Zeit mit Yousefs Beiträgen verbracht hätte, ohne dass sein Bruder ihm über die Schulter sah. »Sie haben das sehr gut dargelegt. Ist denn in letzter Zeit etwas anders gewesen? Hat Yousef sich verändert? War irgendetwas anders an ihm? Neue Freunde? Neue Gewohnheiten? Neue Freundin?«
Sanjar konzentrierte sich, und auf seiner Stirn erschienen Falten. »In den letzten sechs Monaten oder so ging’s ’n bisschen auf und ab mit ihm«, berichtete er langsam. »Hat nicht viel gegessen, nicht geschlafen. War himmelhochjauchzend wie einer, der ’ne neue Freundin hat, dann wieder betrübt, als hätte sie ihn fallenlassen. Dann wieder glücklich. Ich habe ihn aber mit niemandem gesehen. Wir gingen manchmal zusammen aus, in Clubs oder einfach zum Essen mit Freunden, und er war mit keinem der Mädchen
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