Schleier der Traeume
das Alter des Mädchens, nahm sie den Ordner, blätterte ihn durch und las alles: Krankenakten, Polizeiberichte, Zeugenaussagen. Alana King war in psychiatrischer Behandlung gewesen und hatte zudem Schönheitsoperationen hinter sich.
»Du kranker Mistkerl«, flüsterte Rowan und pfefferte die Akte auf den Schreibtisch, als wäre sie voller Maden.
Meriden hatte ihr erzählt, dass er nebenher als Kopfgeldjäger arbeitete. Der Alte musste ihn beauftragt haben, nach Alana zu suchen.
Er weiß es nicht
, dachte Rowan.
Sonst hätte er den Auftrag nicht angenommen
.
Sie sah das Telefon blinken und hörte seinen Anrufbeantworter ab.
»Mr Meriden«, sagte eine pfeifende, mürrische Stimme. »Ich hoffe, Sie stehen kurz davor, Alana ausfindig zu machen. Ich dachte, ich erinnere Sie noch mal daran, was auf dem Spiel steht. Sollten Sie erwägen, zur Polizei zu gehen, bedenken Sie, dass Miss Dietrich permanent beobachtet wird. Liefern Sie mir Alana bis morgen früh oder ich lasse Ihre Freundin umbringen, bevor ich mir Sie vorknöpfe.«
Rowan legte auf. Sie hatte immer gewusst: Was sie vor elf Jahren getan hatte, würde Konsequenzen haben. Doch dass er das tun würde, hatte sie sich nie vorgestellt. Und jetzt musste sie die Sache zu Ende führen.
Sie griff erneut zum Hörer und wählte die Auskunft.
»Welche Stadt in welchem Staat?«, fragte eine Computerstimme.
»Manhattan, New York.« Rowan schloss die Augen. »Gerald King, Riverside Drive 371.«
»Moment, bitte.« Kurz darauf verlas die Stimme eine Nummer und bot ihr an, die Verbindung gegen eine kleine Gebühr herzustellen.
Rowan legte auf und rief selbst an.
Eine weibliche Stimme meldete sich; sie klang angenehm, aber sachlich. »Bei King, Selah Baker am Telefon.«
»Miss Baker, ich habe eine Nachricht für Gerald King. Hören Sie gut zu.« Rowan teilte ihr alles Erforderliche mit und legte auf, ehe die Frau antworten konnte. Dann rief sie Paracelsus an und hinterließ die gleiche Nachricht, aber ohne Namen und Einzelheiten.
»Versuchen Sie nicht, mir zu folgen«, teilte sie ihm noch mit. »Das Haus des Alten ist wie ein Militärgefängnis. Er handelt nach der Devise: erst schießen, dann fragen.« Sie stockte und sagte dann: »Es ist Zeit, ihm entgegenzutreten. Dass ich das einmal tue, habe ich wohl immer gewusst. Also lassen Sie es mich allein erledigen, ja? Wenn ich das nicht mache, sterben Menschen, die ich sehr gern habe.«
Durch die offene Wohnungstür hörte sie das Knarren der Treppe. Rowan schlich zum Eingang und rechnete damit, ihn hochsteigen zu sehen, doch da war niemand. Dafür hörte sie die Hintertür unten in der Küche und fragte sich, ob er im Flur gestanden und mitbekommen hatte, was sie zu Miss Baker gesagt hatte.
Dann wäre er sicher nicht verschwunden
, dachte sie und ging in ihre Wohnung hinüber.
Sie kümmerte sich nicht länger um ihre halb gepackten Sachen, sondern stopfte ihr gesamtes Bargeld in die Tasche. Als sie aus der Gasse auf die Straße trat, wartete ihr Taxi bereits.
»Wohin, Schätzchen?«, fragte der Fahrer.
Der alte Mann hatte so lange gewartet, dass es auf zwei Stunden mehr auch nicht ankam. Ehe sie ihm gegenübertrat, würde sie die Schwestern besuchen, die einzige echte Familie, die sie je besessen hatte. »Zum Friedhof Riverpark.«
Die lange Fahrt durch die Stadt ging überraschend schnell vorbei. Sie bezahlte den Fahrer, bat ihn zu warten und bestach ihn mit einem Zwanzigdollarschein, weil ihm das zunächst nicht recht war. Dann betrat sie den kleinen Friedhof und ging an schlichten Grabsteinen und Gedenktafeln entlang zu einem ruhigen Fleck hinten in der Ecke.
Wie alles in ihrem Leben hatten die Schwestern auch den Grabstein geteilt. Rowan bückte sich, um die blumenumrankten Buchstaben erst von Annette, dann von Deborah mit dem Finger nachzuziehen. Sie hatte vom Steinmetz eine zusätzliche Zeile eingravieren lassen:
Rowans innig geliebte Mutter und Tante
.
»Ich weiß, dass ich beim letzten Besuch hier sagte, ich komme nicht wieder«, sprach sie zum Grabstein und strich ein paar welke Blätter weg. »Aber manchmal passieren beschis-«, sie stockte und vergegenwärtigte sich Deborahs Stirnrunzeln, »ich meine, blöde Sachen.«
Sie setzte sich, lehnte sich an den Stein und betrachtete die anderen Gräber. »Nach dem Weggang aus New York war ich recht erfolgreich. Ich habe Freunde gefunden und mich mit ihnen um ein paar Leute gekümmert. Natürlich habe ich mich in den Falschen verliebt, aber sogar das war in
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