Schleier der Traeume
in der Kaffeebar, wo Alana gesichtet wurde«, sagte er, sobald der Alte den Hörer abnahm. »Die Bedienung da hat den Eindruck, sie steckt in Schwierigkeiten – ihrer Beschreibung nach lebt Ihre Tochter wohl auf der Straße.«
»Das Mädchen ist nicht meine Tochter«, erwiderte King. »Und die Bedienung erinnert sich an die falsche Person. Gehen Sie sie noch mal befragen.«
»Aber das Mädchen sah aus wie Alana –«
»Das tut jedes blonde, blauäugige Mädchen«, fuhr der Alte ihn an. »Alana lebt nicht auf der Straße. Und sie würde tagsüber auch nicht durch die Straßen streifen.«
»Warum nicht? Ist sie ein Werwolf?«
King stieß ein trockenes, bellendes Lachen aus. »Nein, Mr Meriden, sicher nicht. Haben Sie die Unterlagen nicht gelesen, die ich Ihnen zugehen ließ? Egal, wo Alana ist: Sie braucht dauernd Nahrung. Überprüfen Sie Lebensmittelläden, Feinkostgeschäfte, Hotdog-Stände und jeden Ort, wo man rasch und billig etwas zu essen bekommt.«
Meriden runzelte die Stirn. »Sie haben mir nicht gesagt, dass Ihre Tochter eine Essstörung hat.«
»Hat sie auch nicht. Sondern einen ungewöhnlichen Stoffwechsel und ein Verdauungsproblem«, so King. »Sie muss öfters am Tag essen, um nicht rapide abzunehmen.«
Das mochte die Spur sein, die er brauchte. »Nimmt sie Medikamente deswegen?«
»Nein, das ist nicht therapierbar.« King legte die Hand auf die Sprechmuschel, um zu husten, und fragte dann: »Sonst noch was?«
»Ich muss den Mann befragen, der Alana gesichtet hat«, erwiderte Meriden. »Vielleicht ist ihm mehr aufgefallen, als er Ihnen berichtet hat.«
»Die Mitschrift des Gesprächs ist in den Unterlagen«, sagte King. »Er hat mir erzählt, woran er sich erinnerte.«
»Ich würde lieber mit ihm sprechen, um sicher zu sein.«
Der Alte seufzte. »Das geht leider nicht. Mr Sengali ist verstorben.«
»Sie haben ihn umgebracht?« Meriden bekam Gänsehaut. »Sind Sie verrückt? Er war der Einzige, der Ihre Tochter letztes Jahr gesehen hat.«
»Mr Sengali hat mir seine Herzschwäche mitzuteilen versäumt. Nach der Befragung hatte er einen Infarkt und ist eines natürlichen Todes gestorben.« Kings Stimme wurde hart. »Das hat Sie nicht zu kümmern, Mr Meriden. Sie haben ein junges, starkes Herz und drei Wochen Zeit, dafür zu sorgen, dass es noch lange nach Abwicklung unseres Geschäfts schlägt.« Er legte auf.
Meriden knallte den Hörer so heftig auf die Gabel, dass er einen Riss bekam. »Du dämlicher Sack!«
Die letzten Sonnenstrahlen drangen durch das Labyrinth der Hochhäuser Manhattans und glitzerten auf dem eisigen Wasser des Hudson. Statt in seine Wohnung zurückzukehren, fuhr Meriden zu einem Neubau, zog seine Zugangskarte durch den Schlitz an der Schranke, steuerte in die Tiefgarage, stellte den Wagen auf dem mit PH -1 markierten Parkplatz ab und öffnete den Fahrstuhl mit einem Schlüssel.
Die Eigentumswohnanlage – errichtet, um den künftigen Drahtziehern des Bankwesens Unterkunft zu bieten – war so hochtechnisiert und steril wie die Büros im Finanzdistrikt der Stadt. Während der Aufzug ihn geräuschlos ins oberste Stockwerk katapultierte, ballte Meriden die Faust um die Schlüssel und merkte nicht einmal, wie sie in seine Handfläche schnitten.
King war zu offen und unbedacht gewesen und hatte ihm genug Informationen gegeben, um das Leben des Alten zu zerstören. Anfangs hatte Meriden gedacht, es liege daran, dass King bald sterben würde, doch nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. Egal, was seinem Auftraggeber in drei Wochen widerfuhr: Der Alte konnte es sich nicht mehr leisten, ihn am Leben zu lassen – ob Meriden das Mädchen nun fand oder nicht.
Dansant gehörten die beiden oberen Stockwerke, doch er bewohnte nur das Apartment mit dem besten Blick auf die Upper West Side. Meriden öffnete die Wohnungstür mit einem Zweitschlüssel. Dansant wusste, dass er heimlich Doubletten all seiner Schlüssel und Magnetkarten hatte machen lassen, und doch hatte er die PIN -Nummern nicht geändert oder die Schlösser gewechselt. Als Meriden ins große Wohnzimmer kam, flammten Neid und Hass in ihm auf, die seit seinem ersten Besuch hier nicht geringer geworden waren.
Statt die zweihundertsiebzig Quadratmeter Wohnfläche zu unterteilen, hatten Dansants Innenarchitekten die meisten Mauern durch Glaswände ersetzt. So ließ sich von jedem Platz der Wohnung fast das gesamte Apartment mit einer Kopfdrehung überblicken. Riesige Platten aus glattem, karamellfarbenem Kalkstein
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