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Schleier der Traeume

Schleier der Traeume

Titel: Schleier der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Viehl
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war immer erst gekommen, wenn die Narben verheilt waren. Dann besuchte er sie im goldenen Zimmer, beobachtete sie lächelnd und nickte, wenn sie etwas richtig machte. Er war dann so gut gelaunt, dass er so tat, als bemerkte er keinen ihrer Fehler.
    Du schlägst dich wacker, Kind
, sagte er für gewöhnlich, und in größeren Zeitabständen wies er sie auf etwas hin und meinte dazu:
Das machst du schon fast, wie es sein sollte
. Das waren die besten Zeiten mit Vater, wenn sie ihn so sehr zufriedenstellte, dass er es aussprach. Dann war sie der dunklen Kammer vier, fünf, manchmal sogar sechs Monate entronnen.
    Es war diese Freiheit, die die Dinge jedes Mal für sie verdarb; Taire hatte das inzwischen begriffen. Sie gewöhnte sich dann nämlich daran, sich durchs Haus zu bewegen, im Erdgeschoss zu essen und die Bibliothek zu betreten, wann immer sie lesen wollte. Die Diener lächelten und gewährten ihr kleine Vergünstigungen, gaben ihr etwa in der Küche zu naschen oder ließen sie im Musikzimmer auf dem Flügel spielen. Wenn Vater zufrieden war, waren alle glücklich.
    Genau dann aber vergaß Taire und tat etwas Unerlaubtes, und auch wenn niemand sie dabei beobachtet hatte, wusste ihr Vater immer irgendwie davon.
    Das Kindermädchen führte Taire dann zu ihm, und er brachte sie dazu, ihre Verfehlung zu gestehen. Taire weinte, wenn sie sich dazu bekannte, und bat ihn, ihr zu verzeihen, doch Vater nickte nur dem Kindermädchen zu, das sie wieder in die dunkle Kammer brachte. Die war klein, düster und leer, abgesehen von der Toilettenschüssel in der Ecke und dem Schlafsack am Boden. Und sie hatte kein Fenster, und wenn Taire eingesperrt war, glaubte sie, erblindet zu sein, und schrie und weinte stundenlang. Erst wenn sie keinen Lärm mehr machte, schob jemand dreimal täglich ein Tablett mit Essen und einem Becher Wasser durch den Schlitz in der Tür. Und solange sie das Tablett und den Becher nicht wieder nach draußen schob, brachten die Diener ihr nichts Neues zu essen oder zu trinken.
    Niemand kam sie besuchen, wenn sie in der dunklen Kammer saß. Einmal wöchentlich taten sie ihr ein Schlafmittel ins Essen, und wenn sie dann aufwachte, war ihr zwar schwindlig, doch man hatte sie gewaschen und frisch eingekleidet.
    Taire versuchte mitunter, die Mahlzeiten zu zählen, um zu wissen, wie lange ihr Vater sie in der dunklen Kammer ließ, doch nach zwei Wochen kam sie stets durcheinander. Wenn er sie dorthin schickte, fühlte es sich immer wie für die Ewigkeit an.
    Vater sprach nie von der Zeit, die sie eingeschlossen im Finstern verbracht hatte, und die Diener taten, als gäbe es die dunkle Kammer gar nicht. Wenn Taire dorthin verbannt wurde, war es, als gäbe es
sie
selbst
nicht. Wenn sie eine Weile eingesperrt war, fragte sie sich manchmal, ob sie sie vielleicht einfach vergessen würden. Jedes Tablett mit Essen war eine Erleichterung, etwas, das sie der Freiheit eine Mahlzeit näher brachte.
    Dann kam der herrliche Tag, an dem die Tür aufgesperrt wurde und ihr Kindermädchen sie ins goldene Zimmer brachte, ihr ein Bad einließ, ihr die Haare wusch und sie in die hübschesten Kleider steckte. Taires Augen brauchten einige Zeit, um sich an das Licht zu gewöhnen, und sie war oft ganz steif und wund vom Schlafen auf dem harten Boden. Doch das Bad half, und sobald sie wieder alles klar erkennen konnte, war ihr sehr friedlich zumute.
    Ehe ihre Kinderfrau sie hinab ins Esszimmer führte, sagte sie stets:
Zeig deinem Vater, dass du diesmal ein gutes Mädchen sein wirst
. Und Taire gab sich größte Mühe, tage-, wochen-, ja, monatelang, sogar als die Ärzte kamen, doch dann ließ die Freiheit sie wieder vergesslich werden, und sie musste zurück in die dunkle Kammer.
    Taire verstand, warum sie bestraft werden musste – Vater wollte, dass sie Zeit hatte, darüber nachzudenken und sich darauf zu besinnen, wie viel er für sie tat, damit sie sich beherrschte –, doch nach ihrer letzten Verfehlung hatte sich alles geändert. Sie wusste noch immer nicht, was sie falsch gemacht hatte, da sie doch erst seit wenigen Wochen wieder aus der dunklen Kammer befreit war und die ganze Zeit darauf geachtet hatte, nur ja nicht wieder die Beherrschung zu verlieren. Dann war Vater zu ihr gekommen, geradewegs in das goldene Zimmer, in dem sie sonst immer so fröhlich waren, und hatte sie angeschrien. Nie hatte Taire ihren Vater so wütend erlebt. Nie hatte er sie oder andere angebrüllt.
    »Du wertloses, dummes Mädchen. Steh auf.« Kaum

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