Schleier der Traeume
war Taire aufgesprungen, hatte ihr Vater die Sachen genommen, die ihre Kinderfrau für sie rausgelegt hatte, und sie ihr zugeworfen. »Worauf wartest du? Zieh dich an.«
In ihrer Panik hatte sie herumgefummelt und die Knöpfe nicht durch die Löcher bekommen, doch Vater hatte sie einfach mit offenen Kleidern aus dem Zimmer gezerrt. Einer seiner Männer hatte im Flur gewartet, und Vater hatte ihm Taire entgegengestoßen.
»Nimm sie«, hatte er barsch gesagt. »Mir egal, was du mit ihr anstellst, aber schaff sie weg.«
Taire hatte aufgeschrien, sich gegen den Griff des Mannes gewehrt und gefleht, bleiben zu dürfen. »Vater, was habe ich getan? Vater, bitte schick mich nicht weg. Ich will mich ja bessern.«
Er war davongeschritten, ohne sich umzublicken, und der Mann hatte sie über die Hintertreppe aus dem Haus geschafft.
»Keine Zicken, Mädchen«, hatte er gesagt, als sie sich in der Garage losreißen wollte, und sie zu einem Auto ihres Vaters gezerrt, dem Wagen, den die Männer nachts benutzten.
Erst als er die Tür öffnete, begriff Taire, dass er sie hineinstoßen wollte. »Ich darf nicht mit Ihnen fahren.« Sie hatte das Haus nie verlassen. Das war ihr verboten. Sie durfte nicht einmal auf die Balkone. »Lassen Sie mich los.«
»Wir machen eine kleine Spritztour in den Wald«, gab der Mann zurück. »Das wird dir gefallen. Da draußen ist es wirklich schön. Vielleicht siehst du Hirsche und Rehe.« Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und starrte ihr auf die Brust. »Also sei schön brav.«
Als er sie in den Wagen schieben wollte, verrutschte sein Jackett, und Taire sah das Holster mit dem Revolver. Er war ein Wächter ihres Vaters. Wen diese Leute weggebrachten, der kehrte nicht zurück.
Taire wollte nicht über das nachdenken, was sie dann getan hatte. Sie hatte es nicht gewollt, es sich nie auch nur ausgemalt. Sie war ein braves Mädchen gewesen und hatte es beherrscht, denn das war der größte Fehler, etwas, das sie – wie Vater ihr gesagt hatte – nie wieder tun durfte, oder sie müsste ihn für immer verlassen.
Als es aufhörte – als sie aufhörte –, blickte sie an sich hinunter und sah den Schmutz und das Blut an ihren Sachen. Der Mann lag ein Stück entfernt, sein Körper war seltsam verdreht, sein Gesicht flachgedrückt. Und auch Vaters Auto war nur noch Schrott.
Das hatte sie getan. All das.
Taire hörte Männer hinter der Tür schreien, die ins Haus führte, und wich Richtung Garagentor zurück. Dort drückte sie den Öffner, doch auch das Tor war verbogen und blockierte auf halber Höhe, und sie musste sich darunter durch ducken.
An das, was danach gekommen war, erinnerte sie sich kaum. Sie war aus Vaters Haus geflohen, über die Gehsteige gehetzt und mit Leuten zusammengeprallt. Die hatten sie angebrüllt, und eine Frau hatte Taire mit der Handtasche eins übergezogen. Erst als sie den großen Park erreichte, blieb sie stehen und suchte sich gleich darauf ein Versteck im Gebüsch. Sie kroch zwischen die Sträucher und blieb dort lange, sehr lange.
Taire versuchte nie, auf eigene Faust zurückzukehren. Sie wusste, dass sie etwas Furchtbares getan hatte, und würde sie Vater von sich aus aufsuchen wollen, würde er sie wegschicken oder sogar wieder in die dunkle Kammer stecken und diesmal wirklich darin vergessen. Sie musste wiedergutmachen, was sie dem Mann und Vaters Wagen zugefügt hatte, und dazu wusste sie nur einen Weg: Sie musste ihm bringen, was er am meisten ersehnte.
Er glaubte, dass sie nichts über die Zeit vor ihrem Zusammenleben mit ihm wusste, doch sie hatte beim Spielen im goldenen Zimmer das versteckte Tagebuch entdeckt, Seite für Seite gelesen und so all seine Geheimnisse erfahren. Sie hatte immer gespürt, dass sie nicht den ersten Platz in seinem Herzen einnahm, doch das Tagebuch verriet ihr, wer diesen Platz innehatte. Sie brauchte ihrem Vater nur zurückzugeben, was er verloren hatte.
Die Liebe seines Lebens.
Taire presste das Buch ans Herz und liebkoste es wie einen Verband gegen den Schmerz in ihrem Inneren. Die Liebe seines Lebens war der Schlüssel zu allem, und diese Frau mitzubringen, war Taires einzige Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren. Sollte ihr das gelingen, wäre Vater wieder glücklich. Er würde wissen, wie sehr Taire ihn liebte, er würde ihr erlauben zu bleiben, und sie wären eine Familie. Niemand außer Taire konnte das für ihn tun, denn selbst Vater wusste nicht, wie seine Liebe inzwischen aussah.
Nur Taire wusste
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