Schleier der Traeume
sie ihr Bad zu nehmen pflegte. Dann zog sie ihre dynamobetriebene Taschenlampe auf, legte sie mit zur Wanne gerichtetem Strahl aufs Waschbecken und streifte ihre Sachen ab. Die kühle Luft ließ sie schaudern, und das kalte Wasser aus den Flaschen machte die Sache nicht besser.
Sie kletterte in die Wanne, schüttete die erste Flasche langsam über den Kopf und fuhr sich dabei mit den Fingern durchs Haar. Die Kälte ließ sie japsen, doch nach der nächsten Flasche war der ärgste Schock vorbei; sie brauchte zwei weitere, um rundum nass zu werden, und ging dann mit einem Fläschchen Shampoo und einem Seifenstückchen, die sie von einem Zimmermädchenwagen gemopst hatte, an die Arbeit. Nach dem Einseifen machte sie sich an die mühsame Prozedur, sich mit einer Flasche nach der anderen abzuspülen.
Beim ersten Mal hatte sie nicht genug Wasser gehabt und noch einen Tag länger mit verschwitztem Haar herumlaufen müssen, ehe sie auch die Haare waschen konnte. Inzwischen hatte sie aus dem Baden eine Wissenschaft gemacht, und wenn die letzte Flasche leer wurde, waren auch Seife und Shampoo weggespült.
Sie schlang sich ein Hotelhandtuch um den Kopf; mit dem zweiten trocknete sie sich ab und rubbelte etwas Wärme in die zitternden Glieder. Kaum war sie trocken, schlüpfte sie in ihre saubersten Klamotten – für das Waschen der Kleidung benötigte sie so viel Wasser, dass sie sich dazu erst aufraffte, wenn sie den Gestank nicht mehr ertrug – und rieb ihr Haar, bis es ein feuchtes Knäuel war.
Der andere Nachteil beim Baden war, dass das Haar etwa eine Stunde an der Luft trocknen musste, ehe sie rausgehen konnte. Im Dezember kletterte die Temperatur kaum über null Grad, und obwohl sie nie krank wurde, verlor sie zu viel Körperwärme, wenn sie ihren Unterschlupf mit nassen Haaren verließ, und Finger und Zehen wurden taub. Sobald sie die Wanne mit den benutzten Handtüchern ausgewischt und die leeren Flaschen im obersten Regal des Wandschranks versteckt hatte, brachte sie die nassen Tücher zurück in ihr Zimmer und hängte sie im Bad zum Trocknen auf.
Taire las gern, doch beim Absuchen der Hotelzimmer war nur ein Roman aufgetaucht, den ein Gast dagelassen hatte. Weil sie sich keine Bücher kaufen konnte, musste sie darin lesen oder sich an die Gideon-Bibel im Nachttisch halten. Sie machte es sich im Wandschrank bequem, fischte das Buch aus ihrem Kleidersack, zog die Taschenlampe einige Minuten lang auf, knipste sie an und machte sich ans erste Kapitel.
Es war ganz unmöglich, an diesem Tag einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, dass von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte.
Ich war von Herzen froh darüber: Lange Spaziergänge, besonders an frostigen Nachmittagen, waren mir stets zuwider – ein Gräuel war es mir, in der rauen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen, mit einem Herzen, das durch das Schelten Bessies, dem Kindermädchen, bis zum Brechen schwer war, gedemütigt durch das Bewusstsein, physisch so tief unter Eliza, John und Georgina Reed zu stehen
.
Taire hatte gemischte Gefühle, was
Jane Eyre
betraf. Das Buch war bedrückend und voller schlimmer Dinge, die ohne wirklich plausible Gründe geschahen, und auch die Charaktere überzeugten sie nicht immer. Sie glaubte außerdem nicht, dass sich ein zehnjähriges Mädchen – selbst in jener längst vergangenen Zeit – so ausgedrückt hätte. Doch sie wusste, wie die verwaiste Jane sich fühlte, die erst bei Verwandten, die sie nicht haben wollten, einquartiert und danach in ein grauenhaftes Internat abgeschoben worden war, wo man sie psychisch quälte und ihre einzige Freundin zu Tode kam.
Jane hatte wenigstens Helen Burns
. Taire dagegen hatte niemanden.
Und es gibt Schlimmeres, als unansehnlich zu sein
.
Vater wusste zwar von Taires physischer Reizlosigkeit, hatte aber gedacht, sie könnte ihre Mängel überwinden. Sie hatte sich stets in alles gefügt, was er an ihr geändert wünschte, denn sie wusste, dass er sie zu einem besseren Menschen machen wollte. Das war nicht leicht gewesen; jedes Jahr hatte es eine neue Operation gegeben, manchmal zwei oder drei, und er
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