Schließe deine Augen
Nicht, dass sie vorher sehr diszipliniert verlaufen wäre, aber sein sonderbarer Abgang schien die Orientierungslosigkeit der Untersuchung zu unterstreichen, und das Gespräch zerfiel. Nachdem die Profilerin Rebecca Holdenfield ihre Verwirrung zum Ausdruck gebracht hatte, weil sie nicht wusste, welchen Beitrag sie leisten sollte, ergriff sie als Nächste die Flucht. Anderson und Blatt wirkten fahrig, hin- und hergerissen zwischen dem Gravitationsfeld ihres Chefs, der verschwunden war, und dem des noch anwesenden Bezirksstaatsanwalts.
Gurney fragte, ob man Fortschritte bei der Identifizierung des Namens Edward Vallory erzielt hatte. Das war nicht der Fall. Anderson reagierte mit ratlosem Blick auf die Frage, und Blatt brachte mit einer wegwerfenden Handbewegung zum Ausdruck, was er von diesem Ermittlungsansatz hielt.
Der Bezirksstaatsanwalt formulierte einige sinnfreie Sätze darüber, wie wichtig die Besprechung gewesen war, um alle auf den gleichen Stand zu bringen. Gurney fand nicht, dass das gelungen war. Aber zumindest überlegten sich die Beteiligten jetzt vielleicht, mit welcher Art von Geschichte sie es hier eigentlich zu tun hatten. Und natürlich lag nun auch die Frage der vermissten Absolventinnen auf dem Tisch.
Gurneys letzter Beitrag war die Empfehlung an das BCI , mehr über Alessandro und Karnala Fashion herauszufinden, da diese einen gemeinsamen Faktor im Leben der Verschwundenen und eine Verbindung von ihnen zu Jillian darstellten. Gerade als Kline dieses Anliegen absegnete, klopfte Ellen Rackoff an die Tür und deutete auf ihre Uhr. Erschrocken spähte Kline auf die seine und verkündete mit straffem Selbstbewusstsein, dass er dringend zu einer Konferenz beim Gouverneur müsse. Im Gehen verlieh er seiner Überzeugung Ausdruck, dass jeder allein hinausfinden würde. Anderson und Blatt gingen zusammen, gefolgt von Gurney und Hardwick.
Hardwick fuhr eine der allgegenwärtigen schwarzen Limousinen der State Police. Auf dem Parkplatz lehnte er sich an den Kofferraum und zündete sich eine Zigarette an. Dann brachte er unaufgefordert seine Einschätzung zum Verhalten des Captain vor. »Bricht allmählich zusammen, der kleine Wichser. Du kennst das ja mit den Kontrollfreaks: Sie müssen außen alles steuern, weil innen alles ein einziges Chaos ist. Genauso ist es bei Captain Rod, bloß dass der kleine Wichser seinen Wahnsinn allmählich nicht mehr verstecken kann.« Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch mit einer Grimasse weg. »Dass seine Tochter kokainsüchtig ist, weißt du ja?«
Gurney nickte. »Das hast du mir schon letztes Jahr erzählt.«
»Auch, dass sie in Greystone war? Der Irrenanstalt in Jersey?«
»Ja.« Gurney erinnerte sich an einen feuchtkalten Tag im letzten November. Damals hatte Hardwick erwähnt, dass das Suchtproblem der Tochter die Urteilsfähigkeit des Vaters in all jenen Fällen beeinträchtigte, bei denen Drogen im Spiel waren.
»Sie haben sie aus Greystone rausgeworfen, weil sie Schmerzpillen eingeschmuggelt und mit anderen Patienten geschlafen hat. Die letzte Neuigkeit ist, dass sie verhaftet wurde, weil sie bei einem Narcotics-Anonymous-Treffen mit Crack gehandelt hat.«
Gurney wunderte sich über Hardwicks Bemerkungen. Sie klangen irgendwie nicht nach einer mitfühlenden Erklärung für das Verhalten des Captains.
Hardwick sog an seiner Zigarette, wie um zu beweisen, wie viel Rauch er in drei Sekunden in die Lunge bekam. »Du schaust mich an, als wolltest du fragen, was das mit dem Fall zu tun hat.«
»Die Frage ist mir in den Sinn gekommen.«
»Die Antwort lautet: nichts. Es hat nicht das Geringste mit dem Fall zu tun. Bloß dass Rodriguez’ Entscheidungen einen Dreck wert sind. Er belastet die Ermittlungen.« Er warf die halb gerauchte Zigarette auf den Asphalt und trat sie heftig scharrend aus.
Gurney versuchte es mit einem Themenwechsel. »Tu mir einen Gefallen. Kümmere dich um Alessandro und Karnala Fashion. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die anderen besonders interessiert sind.«
Hardwick reagierte nicht. Eine Minute lang starrte er auf die zerdrückte Kippe neben seinem Fuß. »Ich muss los.« Er öffnete die Wagentür und zog das Gesicht in Falten, als wäre ihm ein saurer Geruch in die Nase gestiegen.
»Pass bloß auf, Davey, alter Knabe. Der kleine Wichser ist eine tickende Zeitbombe. Und Zeitbomben haben es so an sich, dass sie irgendwann hochgehen.«
37
Das Reh
Auf der Heimfahrt fühlte sich Gurney elend, ohne so
Weitere Kostenlose Bücher