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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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recht zu begreifen, warum. Einerseits war er zerstreut, andererseits suchte er Zerstreuung – ohne welche zu finden. Ein Radiosender schien ihm unerträglicher als der andere. Wenn die Musik nicht seiner Stimmung entsprach, kam sie ihm idiotisch vor, und wenn doch, verstärkte sie nur seine Niedergeschlagenheit. Jede menschliche Stimme irritierte ihn, verriet Dummheit oder Gier oder beides. Bei jedem Werbespot wollte er schreien: »Verlogene Ärsche!«
    Nachdem er das Radio ausgeschaltet hatte, konnte er sich wieder auf die Straße konzentrieren – auf die schäbigen Dörfer, die toten oder sterbenden Bauernhöfe und die giftigen Offerten, mit denen die Erdgasfirmen die verarmten Städte köderten.
    Meine Güte, er war in einer furchtbaren Stimmung.
    Warum nur?
    Er ließ das Treffen an sich vorbeiziehen, wartete ab, wo seine Gedanken hängen blieben.
    Ellen Rackoff in ihrem Kaschmirpullover natürlich. Nicht der leiseste Hauch von Unschuld. Warm und gemütlich wie eine Schlange. Die Gefahr – ein perverser Teil der Anziehungskraft.
    Lieutentant Andersons Zusammenfassung des kriminaltechnischen Berichts, in dem die Tat nach einem professionellen Mord klang: »Selbst die Siphons unter den Becken im Bad und in der Küche wurden abgeschrubbt.«
    Die verbindenden Fakten bei den vermissten Frauen: der stets gleiche Streit mit den Eltern, die überzogene Forderung, die unweigerlich auf Ablehnung stieß, davor der Kontakt zu Hector, Karnala Fashion und dem Fotografen Alessandro.
    Jack Hardwicks kalte Prognose: »Wir müssen damit rechnen, dass sie inzwischen alle tot sind.«
    Rodriguez’ persönliche Qual, die vom potenziellen Grauen des Falls Perry widergespiegelt und verstärkt wurde.
    Gurney hörte noch immer die Heiserkeit in der Stimme des Mannes, als säße er neben ihm im Auto. So klang ein Mensch, der gedehnt wurde wie ein Gummiband, das den Packen, den es halten sollte, nicht umfassen konnte. Ein Mensch, dem die Flexibilität fehlt, um die zufälligen Elemente in seinem Leben zu verkraften.
    Das brachte Gurney ins Grübeln: Gibt es wirklich zufällige Elemente? Sind wir nicht selbst für die Situation verantwortlich, in der wir uns wiederfinden? Sind es nicht unsere eigenen Entscheidungen und Prioritäten, die den Ausschlag geben? Er merkte, dass ihm speiübel war, und plötzlich erkannte er den Grund dafür. Er identifizierte sich mit Rodriguez: der karrierebesessene Polizist, der als Vater versagt hat.
    Und dann – als wäre diese aufwühlende Einsicht nicht genug, als hätte eine böswillige Gottheit die vollkommene äußere Entsprechung zu seinem inneren Aufruhr heraufbeschworen – stieß er mit dem Reh zusammen.
    Gerade hatte er das Eingangsschild von Brownsville passiert. Es gab kein Dorf, nur die zugewucherten Überreste einer längst verlassenen Flusstalfarm links und eine bewaldete Böschung rechts. Ein mittelgroßes Reh war zwischen den Bäumen aufgetaucht und nach kurzem Zögern über die Straße gesprungen – so weit vor ihm, dass er sein Tempo kaum verlangsamen musste. Doch dann folgte das Kitz, es war zu spät zum Bremsen, und obwohl er so weit wie möglich nach links ausscherte, hörte und spürte er das schreckliche Krachen.
    Sofort lenkte er den Wagen auf den Seitenstreifen und hielt. Er blickte in den Rückspiegel und hoffte, nichts zu sehen, hoffte, dass es einer dieser glücklichen Unfälle war, bei denen das erstaunlich robuste Reh mit nur oberflächlichen Verletzungen in den Wald entfloh. Aber so war es nicht. Dreißig Meter hinter ihm lag ein kleiner brauner Körper hingestreckt am Straßengraben.
    Schwerfällig stieg er aus und marschierte auf dem Seitenstreifen zurück, immer noch in der schwachen Hoffnung, dass das Kitz vielleicht nur betäubt war und sich gleich taumelnd aufrappeln würde. Doch als er näher kam, wurde diese Hoffnung durch den Anblick des verdrehten Kopfs und der glasigen Augen zerstört. Er blieb stehen und schaute sich hilflos um. Auf dem verwahrlosten Farmfeld bemerkte er das reglos verharrende Muttertier.
    Er konnte nichts tun.
    Dann saß er im Auto, ohne sich daran erinnern zu können, wie er zurückgelaufen war, und sein Atem wurde von leisen Schluchzern unterbrochen. Erst auf halbem Weg nach Walnut Crossing fiel ihm ein, dass er nach dem Schaden am Wagen sehen musste, doch er fuhr einfach weiter, zerrissen von Schuldgefühlen und getrieben von dem Wunsch, endlich nach Hause zu kommen.

38
Die Augen von Peter Piggert
    Im Haus herrschte eine seltsam leere

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