Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
Vom Netzwerk:
frustrierend.

52
Der Flores-Faktor
    Die Mittagspause entpuppte sich nicht unbedingt als geselliges Ereignis, doch Gurney kam das eher entgegen, denn sein Wesen war so weit von Geselligkeit entfernt, dass es gerade noch für eine Ehe reichte. Statt zur Cafeteria zu streben, zerstreuten sich alle in der vereinbarten halben Stunde, um mit Blackberrys und Notebooks zu kommunizieren.
    Allerdings wäre es ihm mit dreißig Minuten machohafter Kameradschaft wohl noch besser ergangen als auf der zugigen Bank vor der Polizeifestung, wo er die neueste SMS auf seinem Handy in sich einsickern ließ – offenbar die Antwort auf seine Nachfrage.
    Er las: »Sie sind so ein interessanter Mann, ich hätte wissen müssen, dass meine Töchter Sie anbeten werden. Sehr freundlich von Ihnen, in die Stadt zu kommen. Nächstes Mal werden sie Sie besuchen. Wann? Wer weiß? Sie wollen, dass es eine Überraschung wird.«
    Gurney starrte auf die Worte, die ihn in einen Strudel aus Bildern rissen, von verstörend lächelnden Frauen, von einem toastend gehobenen Glas Montrachet, von einer hoch aufragenden schwarzen Mauer des Vergessens.
    Kurz spielte er mit dem Gedanken, eine Nachricht zurückzuschicken, die mit »Lieber Saul …« begann. Aber er beschloss, sein Wissen um die wahre Identität des falschen Jykynstyl zunächst noch für sich zu behalten. Er wusste nicht, wie viel diese Karte wert war, und er wollte sie nicht ausspielen, solange er das Spiel nicht besser durchschaute. Außerdem gab ihm diese Zurückhaltung zumindest ein kleines Gefühl von Macht. Ungefähr so, als hätte man in einem gefährlichen Stadtteil ein Taschenmesser dabei.
    Als er in den Konferenzraum zurückkehrte, fieberte er danach, sich wieder mit dem Fall beschäftigen zu können. Kline, Rodriguez und Wigg hatten schon ihre Plätze eingenommen. Anderson näherte sich mit einem übervollen Becher Kaffee, verbissen darauf bedacht, nichts zu verschütten. Blatt stand an der Maschine und neigte sich nach vorn, um ihr das letzte schwarze Rinnsal zu entlocken. Hardwick fehlte.
    Rodriguez schaute auf die Uhr. »Es ist Zeit, Leute. Die einen sind da, die anderen nicht, aber das ist nicht unser Problem. Wir fangen mit einem Zwischenbericht über die Familienbefragungen an. Bill, Sie sind dran.«
    Mit der Konzentration eines Mannes, der eine Bombe entschärfen muss, stellte Anderson seinen Kaffee auf den Tisch. »Okay.« Er schlug eine Mappe auf und fing an, den Inhalt zu sichten und zu sortieren. »Okay, also dann. Zunächst haben wir uns eine Liste aller Absolventen der zwanzig Jahre vorgenommen, seit es Mapleshade gibt, dann haben wir das Ganze eingegrenzt auf Absolventinnen der letzten fünf Jahre. Vor fünf Jahren hat sich die Ausrichtung des Internats geändert: von Jugendlichen mit Verhaltensproblemen hin zu jugendlichen Missbraucherinnen.«
    »Verurteilte Straffällige?«, fragte Kline.
    »Nein. Ausschließlich private Maßnahmen durch Verwandte, Therapeuten, Ärzte. Mapleshade wird praktisch nur von kranken Kids besucht, deren Familien verhindern wollen, dass sie vor dem Jugendgericht landen, und weil sie sie so schnell wie möglich loshaben wollen, bevor sie bei irgendeiner Schweinerei ertappt werden. Die Eltern schicken sie nach Mapleshade, zahlen das Schulgeld und hoffen, dass Ashton das Problem löst.«
    »Und schafft er das?«
    »Schwer zu sagen. Die Familien wollen nicht darüber reden, wir können also nur die Namen der Absolventinnen mit der nationalen Datenbank für Sexualstraftäter abgleichen, um zu sehen, ob sie als Erwachsene mit der Justiz in Berührung gekommen sind. Bis jetzt haben wir nicht viel gefunden: zwei aus den Abschlussklassen vor vier und fünf Jahren, in den letzten drei Jahren keine einzige. Schwer zu sagen, was das bedeutet.«
    Kline zuckte die Achseln. »Könnte bedeuten, dass Ashton ganze Arbeit leistet. Oder es spiegelt einfach die Tatsache wider, dass sexueller Missbrauch von weiblichen Tätern selten angezeigt und daher auch kaum strafrechtlich verfolgt wird.«
    »Wie selten?«, erkundigte sich Blatt.
    »Pardon?«
    »Wie selten wird er Ihrer Meinung nach angezeigt und strafrechtlich verfolgt?«
    Offenbar irritiert über die Frage, die vom eigentlichen Thema wegführte, lehnte sich Kline zurück. Sein Ton war steif, akademisch, ungeduldig. »Nach aktuellem Forschungsstand werden zwanzig Prozent aller Frauen und zehn Prozent aller Männer als Kinder sexuell missbraucht, und in rund zehn Prozent der Fälle ist der Täter weiblich.

Weitere Kostenlose Bücher