Schließe deine Augen
Gurney fort. »Hören Sie, wenn ich diesen Drecksack aus dem Gleichgewicht bringen kann, ist das ein Vorteil für alle. Und im schlimmsten Fall bleibt eben alles beim Alten. Sie geben mir nur eine Telefonnummer, keine offizielle Vollmacht, etwas zu tun. Wenn es zu Konsequenzen kommt, was ich nicht glaube, dann auf keinen Fall für Sie. Ich habe schon im Voraus vergessen, woher ich die Nummer hatte.«
Nach kurzem Schweigen klackten Tasten, und Becker las eine Nummer vor, die mit einer Vorwahl von Palm Beach begann. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
In den nächsten Minuten versetzte sich Gurney in eine einfache Variante der vielschichtigen Rolle, zu der er in seinen Akademieseminaren über verdeckte Ermittlungen immer riet. Er wurde zum eiskalten Reptil, das unter einem dünnen Lack zivilisierter Manieren lauerte.
Sobald er mit Haltung und Ton zufrieden war, aktivierte er die Rufnummernunterdrückung seines Handys und wählte Ballstons Anschluss. Er wurde sofort zur Mailbox weitergeleitet.
Eine verzogene, herrische Stimme verkündete: »Hier ist Jordan. Wenn Sie eine Antwort wollen, hinterlassen Sie bitte eine aussagekräftige Nachricht zum Thema Ihres Anrufs.« Die grelle Herablassung seines »bitte« stellte die Bedeutung des Wortes auf den Kopf.
Gurney sprach bedächtig und ein wenig unbeholfen, als hätte er Mühe mit den Feinheiten einer höflichen Ausdrucksweise. Außerdem fügte er den Hauch eines südeuropäischen Akzents hinzu. »Das Thema meines Anrufs ist Ihre Beziehung zu Karnala Fashion, über die ich möglichst bald mit Ihnen reden muss. Ich melde mich in ungefähr einer halben Stunde noch mal. Bitte halten Sie sich bereit, dann kann ich Ihnen … aussagekräftigere Einzelheiten nennen.«
Gurneys Strategie setzte gleich mehrere Annahmen voraus: dass Ballston zu Hause war, wie es seine Kautionsabmachung vorschrieb; dass jemand in seiner prekären Situation wie besessen seine Anrufe und Nachrichten überprüfte; dass seine Herangehensweise das Telefonat in einer halben Stunde die Art seines Verhältnisses zu Karnala verraten würde.
Schon eine dieser Annahmen vorauszusetzen war riskant. Drei vorauszusetzen war Wahnsinn.
58
Handeln
Um zwei vor elf machte Gurney den zweiten Anruf. Nach dem dritten Läuten wurde abgenommen.
»Hier Jordan.« Die Stimme klang starrer und älter als die Aufnahme.
Gurney grinste. Offenbar war Karnala wirklich das Zauberwort. Dass er es auf Anhieb erraten hatte, löste einen Adrenalinstoß aus. Er fühlte sich, als hätte er Zutritt zu einem Turnier mit hohen Einsätzen bekommen, das sich darum drehte, aus dem Verhalten des Gegners die Spielregeln zu erschließen. Er schloss die Augen und schlüpfte in die Rolle einer Schlange, die sich als harmlos ausgab.
»Hallo Jordan. Wie geht es Ihnen so?«
»Gut.«
Gurney schwieg.
»Was … was wollen Sie?«
»Wissen Sie das nicht?«
»Was? Mit wem spreche ich?«
»Ich bin Polizeibeamter, Jordan.«
»Mit der Polizei rede ich nicht. Das wurde klar und deutlich …«
Gurney schnitt ihm das Wort ab. »Nicht einmal über Karnala?«
Eine Pause entstand. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
Gurney seufzte und saugte gelangweilt an den Zähnen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, wiederholte Ballston.
Wenn das so wäre, dachte Gurney, hätte er das Telefonat längst beendet. Oder es gar nicht erst entgegengenommen. »Also, Jordan, die Sache ist die: Wenn Sie bereit wären, Informationen weiterzugeben, könnte vielleicht was zu Ihrem Vorteil arrangiert werden.«
Ballston zögerte. »Hören Sie, äh, warum sagen Sie mir nicht einfach Ihren Namen, Officer?«
»Das ist keine gute Idee.«
»Bitte? Ich …«
»Ich wollte nur mal die Fühler ausstrecken, Jordan. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Nicht ganz.«
Gurney seufzte erneut, als wäre ihm das Reden eine Last. »Ein offizielles Angebot kann nur gemacht werden, wenn klar ist, dass es dann auch ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Die Bereitschaft zum Weitergeben nützlicher Informationen über Karnala Fashion könnte die Haltung des Staatsanwalts zu Ihrem Fall entscheidend verändern, aber bevor wir uns über die Möglichkeiten unterhalten können, müssen wir den Eindruck gewinnen, dass Sie kooperieren. Das verstehen Sie bestimmt.«
»Nein, überhaupt nicht.« Ballstons Stimme war brüchig.
»Nein?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe noch nie von Caramel Fashion gehört, oder wie das Ding heißt. Deswegen kann ich Ihnen auch nichts
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