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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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ihr Gähnen entschuldigte, äußerte sie sich erst, als sie am Ende des Vorgangs Klarlack auftrug.
    »Sie haben schöne Hände. Sie sollten sich besser drum kümmern.« Ihre Stimme war zugleich jung und müde und passte zu der traurigen Sachlichkeit in ihren Augen.
    Auf dem Weg hinaus kaufte er eine kleine Dose Haargel aus einem Gestell mit Cremes und Kosmetik auf dem Tresen. Er schraubte die Dose auf, tupfte sich etwas Gel in die Hände und rieb es sich ins Haar, um den derzeit so populären Effekt leichter Zerzaustheit zu erzielen.
    »Was meinen Sie?«, fragte er die desinteressierte schöne Kassiererin.
    Die Frage belebte sie auf ungeahnte Weise. Nach mehrmaligem Blinzeln, als wäre sie aus einem Traum gerissen worden, kam sie nach vorn und musterte sein Gesicht aus verschiedenen Richtungen. »Darf ich?«
    »Nur zu.«
    Mit unregelmäßigen Zickzackbewegungen fuhr sie ihm durchs Haar, schnippte es hin und her und zog einzelne Strähnen nach oben, um sie stachliger zu machen. Nach ein, zwei Minuten trat sie zurück, ein erfreutes Funkeln in den Augen.
    »Das ist es!«, verkündete sie. »Das sind Sie wirklich!«
    Er musste lachen, was sie anscheinend verwirrte. Immer noch lachend nahm er ihre Hand und drückte, einer plötzlichen Regung folgend, einen Kuss darauf. Auch das schien sie zu verwirren, allerdings auf angenehmere Weise. Dann schlenderte er hinaus in das Dampfbad Floridas. Wieder im Mercedes gab er dem Chauffeur die Adresse von Darryl Beckers Studio.
    »Wir müssen in West Palm zwei Leute abholen«, erklärte er. »Danach besuchen wir jemanden am South Ocean Boulevard.«

60
Tanz mit dem Teufel
    Wie jeder Teilnehmer an einem seiner Akademieseminare schnell bemerkte, war Gurneys Ansatz für verdeckte Ermittlungen komplexer als bei einem durchschnittlichen Kriminalbeamten. Er bediente sich nicht einfach der Manieren, Verhaltensweisen und Hintergrunddaten einer angenommenen Identiät. Es war vielschichtiger und entsprechend schwierig zu gestalten. Er arbeitete mit einer Fassade, die die Zielperson durchdringen, einem Code, den die Zielperson knacken, und einem Weg, dem die Zielperson folgen sollte, damit sie letztlich zu den von Gurney gewünschten Auffassungen gelangte.
    In der aktuellen Situation kam allerdings noch eine weitere Dimension hinzu. In der Vergangenheit hatte er immer genau gewusst, welchen Eindruck er der Zielperson vermitteln wollte. Diesmal war es anders. Die geeignete Identität hing davon ab, was sich hinter Karnala verbarg und wie die Verbindung zu Ballston aussah – beides Unbekannte in der Gleichung. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich behutsam voranzutasten, in dem Wissen, dass jeder falsche Schritt verhängnisvoll sein konnte.
    Als der Wagen drei Kilometer vor Ballstons Adresse auf den South Ocean Boulevard bog, dämmerte Gurney allmählich die absurde Schwierigkeit seines Vorhabens. Er marschierte unbewaffnet in das Haus eines psychopathischen Sexualmörders. Sein einziger Schutz und seine einzige Erfolgschance lagen in einer Rolle, die er in Reaktion auf Ballstons Verhalten erst nach und nach erschaffen musste. Es war eine Aufgabe wie aus Alice im Wunderland. Ein vernünftiger Mann hätte wohl einen Rückzieher gemacht. Ein vernünftiger Mann mit Frau und Sohn hätte garantiert einen Rückzieher gemacht.
    Er merkte, dass er sich hatte mitreißen lassen, dass seine Entscheidungen vom Adrenalin gelenkt wurden. Ein Fehler, der leicht zu weiteren Fehlern führen konnte. Schlimmer noch, es raubte ihm seine Hauptstärke. Nicht dem Adrenalin hatte er seine Erfolge zu verdanken, sondern seinen analytischen Fähigkeiten. Er musste besonnen bleiben. Ruhig überlegte er, ob er einen halbwegs festen Ausgangspunkt für seine Unterhaltung mit Ballston hatte.
    Der Mann hatte Angst, und diese Angst hatte etwas mit Karnala Fashion zu tun. Dem Vernehmen nach war Karnala in der Hand der Skards, die neben anderen hässlichen Tätigkeiten auch als Edelzuhälter agierten. Offenbar war Melanie Strum zu Ballston geschickt worden, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Dass Karnala dabei im Spiel war, war eine naheliegende Vermutung. Wenn Beweise für eine Verbindung von Karnala zu Ballston und Strum entdeckt wurden, war eine Verurteilung Ballstons sicher. Das konnte die Erklärung für seine Furcht sein. Allerdings … Gurney hatte den Eindruck gewonnen, dass dem Mann nicht nur die Erwähnung von Karnala – das hieß, Gurneys Wissen um einen Zusammenhang – Angst eingejagt hatte,

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