Schließe deine Augen
voller Zufälle, Jack.«
Hardwick nickte. Er stand auf und spähte durchs Fenster. »Der Streifenwagen ist da. Wie gesagt, volle Bewachung, Minimum achtundvierzig Stunden. Danach sehen wir weiter. Alles klar?«
»Ja.«
»Bei deiner Frau auch?«
»Ja.«
»Muss mich dringend aufs Ohr hauen. Ich melde mich später.«
»Gut. Danke, Jack.«
Hardwick zögerte. »Hast du noch deine Waffe von früher?«
»Nein. Hab sie nie gern getragen. Nicht einmal in der Nähe wollte ich sie haben.«
»Also, angesichts der Lage … besorgst du dir vielleicht besser ein Gewehr.«
Lange Zeit nachdem Hardwicks Rücklichter auf dem Wiesenweg verschwunden waren, blieb Gurney allein am Tisch sitzen, um die schockierende Sache mit der Puppe zu verarbeiten und sich auf die veränderte Situation einzustellen.
Natürlich war es nicht auszuschließen, dass die Namen Alessandro und Sandy rein zufällig so kurz hintereinander aufgetaucht waren, aber im Grunde war das Wunschdenken. Als Realist musste man sich darauf einstellen, dass Sandy, der frühere Fotograf einer pornografischen Website, identisch war mit Alessandro, dem aktuellen Fotografen der fast pornografischen Karnala-Anzeigen – und dass sich hinter beiden Namen der Sexualstraftäter Saul Steck verbarg.
Aber wer war Hector Flores?
Und warum war Jillian Perry enthauptet worden?
Und Kiki Muller?
Hatten sie etwas über Karnala herausgefunden? Über Steck? Oder über Flores?
Und weshalb hatte ihn Steck unter Drogen gesetzt? Um ihn mit seinen »Töchtern« zu fotografieren? Um ihm mit öffentlicher Bloßstellung oder Schlimmerem zu drohen? Um auf seinen Beitrag zu den Ermittlungen Einfluss zu nehmen? Um ihn zur Preisgabe von Insiderinformationen zu zwingen?
Oder ging es bei den Drogen genau wie bei der enthaupteten Puppe nur um den Beweis von Gurneys Verwundbarkeit? Um Abschreckung, damit er sich aus dem Fall zurückzog?
Oder steckte hinter beiden Ereignissen etwas noch Kränkeres? Waren sie beide Elemente im Spiel eines Kontrollfreaks, eine aufregende Möglichkeit, Macht und Dominanz zu demonstrieren? Ein Vorgehen, mit dem der Betreffende schlicht zeigen wollte, wozu er imstande war? Ein Nervenkitzel?
Gurney hatte kalte Hände. Um sie zu wärmen, rieb er sie fest an den Schenkeln, doch das half nicht viel. Er begann zu zittern. Er erhob sich, rieb sich mit den Händen über Brust und Oberarme, lief auf und ab. Schließlich trat er ans andere Ende des Raums zu dem eisernen Holzofen, in dem manchmal noch ein Rest Wärme nistete. Doch das staubige schwarze Metall war noch kälter als seine Hand, und als er es berührte, kam das Zittern wieder.
Er hörte das Klicken des Lichtschalters im Schlafzimmer, kurz darauf gefolgt vom Knarren der Badtür. Er musste mit Madeleine reden, sie beruhigen – aber zuerst musste er sich selbst beruhigen. Erleichtert nahm er durchs Fenster den Streifenwagen neben der Seitentür wahr.
Er holte ganz tief Luft und atmete langsam und kontrolliert aus. Keine Hektik, keine Panik. Positive Gedanken. Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten.
Immerhin war es seiner Initiative und Geistesgegenwart zu verdanken, dass die Fingerabdruckspur zu Steck gefunden worden war.
Diese Entdeckung stellte auch einen Zusammenhang zwischen dem Drogenrätsel um »Jykynstyl« und dem Mord- und Vermisstenrätsel um Mapleshade her. Und da er in beiden Bereichen einen Fuß in der Tür hatte, befand er sich in einer hervorragenden Ausgangslage, um mithilfe der einen Sache Licht in die andere zu bringen.
Seine hartnäckigen Nachforschungen hatten die Ermittlungen aus dem Sumpf geholt, in dem sie festgesteckt hatten – der fruchtlosen Suche nach einem mexikanischen Tagelöhner –, und ihnen eine neue Richtung gegeben.
Seine Forderung, Kontakt zu allen Mapleshade-Absolventinnen der letzten Jahre aufzunehmen, hatte nicht nur zu der Erkenntnis geführt, dass ungewöhlich viele von ihnen derzeit unerreichbar waren, sondern auch die Verbindung zu Melanie Strums Schicksal aufgedeckt.
Seine Einschätzung der mutmaßlichen Bedeutung von Karnala Fashion hatte Jordan Ballston eine irrwitzige Enthüllung entlockt, die vielleicht den endgültigen Durchbruch in dem Fall bedeutete.
Selbst dass der Täter aktiv geworden war, um Gurneys Bemühungen abzuwürgen, bewies letztlich, dass er auf der richtigen Spur war.
Erneut hörte er das Knarren der Badtür und zwanzig Sekunden später das Klacken des Lichtschalters. Vielleicht konnte er jetzt, da er wieder festen Boden unter den Füßen
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