Schließe deine Augen
Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Der schönste Ort der Welt, und du machst ihn kaputt.«
Manchmal und unvorhersehbar, so kam es Gurney vor, verschworen sich die Elemente eines ansonsten gleichgültigen Universums, um ihm einen Schauer über den Rücken zu jagen. Auch jetzt war es wieder so weit, denn am nördlichen Grat hinter der hohen Wiese setzte genau in diesem Moment Kojotengeheul ein.
Madeleine schloss die Augen und setzte die Füße auf den Boden. Sie legte die Fäuste in den Schoß und entspannte den Griff um die Schere so weit, dass das Blut wieder zirkulieren konnte. Sie ließ den Kopf nach hinten an die Lehne sinken. Ihr Mund entspannte sich. Fast als hätte sie das Jaulen der Kojoten, das sie sonst als bedrohlich und beklemmend empfand, auf ganz andere Weise berührt.
Als im Ostfenster des Schlafzimmers der erste graue Streifen der Dämmerung erschien, schlief sie ein. Nach einer Weile nahm ihr Gurney die Schere aus den Händen und knipste das Licht aus.
64
Ein neuer Tag
Die schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne tauchten die Wiese in gelbes Licht. Gurney saß am Frühstückstisch bei seiner zweiten Tasse Kaffee. Ein paar Minuten zuvor hatte er beobachtet, wie der von Hardwick bestellte Streifenwagen abgelöst wurde. Er war hinausgegangen, um dem neuen Wachbeamten ein Frühstück anzubieten, doch der junge Mann hatte mit militärisch knapper Höflichkeit abgelehnt. »Danke, Sir. Ich habe schon gefrühstückt.«
Nach einer schlaflosen Nacht hatte sich in Gurneys linkem Bein ein dumpfer Ischiasschmerz eingenistet. Schon seit Stunden rang er mit Fragen, die sich ihm entwanden wie glitschige Fische.
Sollte er Hardwick um einen Abzug des Fotos bitten, das bei Saul Stecks Verhaftung gemacht worden sein musste – um sich zu vergewissern, dass bei den Fingerabdrücken kein Fehler passiert war? Oder würde der Austausch zwischen dem BCI und der zuständigen Behörde zu viel Staub aufwirbeln?
Sollte er Hardwick oder vielleicht einen seiner alten Kollegen aus New York bitten, den Eigentümer des Sandsteinhauses herauszufinden, oder würde selbst dieser einfache Vorgang heikle Fragen nach sich ziehen?
Gab es irgendeinen Grund, an Sonyas Behauptung zu zweifeln, dass sie im Hinblick auf »Jykynstyl« genauso hinters Licht geführt worden war wie er selbst – abgesehen davon, dass Gurney sie für eine Frau hielt, der man nicht so leicht etwas vormachen konnte?
Sollte er sich tatsächlich ein Gewehr besorgen oder würde er Madeleine damit noch stärker verängstigen?
War es sinnvoll, bis zum Abschluss des Falls in ein Hotel zu ziehen? Aber was war, wenn er wochen- oder monatelang ungelöst blieb?
Sollte er bei Darryl Becker anfragen, um etwas über den Stand der Durchsuchung von Ballstons Boot zu erfahren?
Konnte er sich beim BCI erkundigen, welche Fortschritte man mit den Anrufen bei Mapleshade-Absolventinnen und ihren Verwandten erzielt hatte?
Steckte hinter all diesen Ereignissen – von Hector Flores’ Ankunft in Tambury über die Morde an Jillian und Kiki, das Verschwinden der vielen jungen Frauen bis hin zu Ballstons Sexualmorden, dem komplexen Jykynstyl-Manöver und der enthaupteten Puppe – ein einziger Kopf? Und wenn ja, war die Triebfeder seines Handelns ein praktischer krimineller Zweck oder purer psychotischer Wahn?
Am verstörendsten für Gurney war, dass es ihm so schwerfiel, diese Knoten zu entwirren.
Selbst die einfachste Frage – sollte er weiter Alternativen abwägen, sich ins Bett legen, um Ruhe zu finden, oder sich körperlich betätigen? – führte unweigerlich in eine Sackgasse, weil jede Schlussfolgerung sofort mit einem Einwand quittiert wurde. Nicht einmal der Einfall, ein paar Ibuprofen gegen den Ischiasschmerz zu nehmen, ließ sich in die Tat umsetzen, weil er nicht ins Schlafzimmer gehen wollte, um das Fläschchen zu holen.
Er spähte hinaus auf das Spargelkraut, das reglos in der windstillen Luft stand. Er fühlte sich abgetrennt, als wären all seine üblichen Verbindungen zur Welt zerbrochen. So war es ihm ergangen, als ihm seine erste Frau ihre Scheidungsabsicht mitteilte, und Jahre später, als Danny ums Leben kam, und erneut nach dem Tod seines Vaters. Und jetzt …
Und jetzt hatte Madeleine …
Tränen schossen ihm in die Augen. Doch als ihm die Sicht verschwamm, hatte er den ersten vollkommen klaren Gedanken seit langer Zeit. Es war ganz einfach. Er würde den Fall aufgeben.
Die Reinheit und Richtigkeit dieser Entscheidung schlug sich in einem
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