Schlink,Bernhard
wächst eine gute Ernte.«
Sie
standen im Garten. Er legte den Arm um Kate, und sie lehnte sich an ihn. »Nur
mein Buch ist noch lange nicht fertig. Im Winter oder im Frühling.«
»Das
ist bald! Und geht das Schreiben nicht leichter als in der Stadt?«
»Im
Herbst habe ich eine erste Fassung. Magst du sie lesen?«
Sie
hatte immer vertreten, woran man schreibe, dürfe man niemandem zeigen, man
dürfe auch mit niemandem darüber reden, es bringe Unglück. Er freute sich über
ihr Vertrauen. Er freute sich auf die Apfelernte und auf den Most, den er aus
den Äpfeln keltern würde. Er hatte einen großen Kessel bestellt.
Der
Herbst kam früh, und der frühe Frost färbte den Ahorn flammend rot. Rita konnte
sich an den Farben der Bäume nicht sattsehen und auch nicht daran, wie im Kamin
an kühlen Abenden aus Papier und Holz ein wärmendes Feuer entstand. Er ließ sie
selbst das Papier knüllen, die Späne und Scheite schichten und das Streichholz
anzünden und dranhalten. Trotzdem sagte sie: »Schau, Papa, schau!« Es blieb für
sie ein Wunder.
Wenn
sie zu dritt vor dem Kamin saßen, servierte er heißen Apfelmost, mit einem
Blatt grüner Minze für Rita und einem Schuss Calvados für Kate und für ihn.
Vielleicht lag es am Calvados, dass sie seinem Werben im Bett öfter nachgab.
Vielleicht lag es an ihrer Erleichterung darüber, dass die erste Fassung fertig
war.
Er
wollte jeden Tag ein bisschen lesen und erklärte Rita, sie müsse jeden Tag eine
Weile alleine spielen. Am ersten Tag klopfte sie nach zwei Stunden stolz an
seine Tür, ließ sich loben und versprach, am nächsten Tag noch länger alleine
zu bleiben. Aber am nächsten Tag hatte es sich erledigt. Er war nachts
aufgestanden und hatte zu Ende gelesen.
Kates erste drei Romane hatten das Leben einer Familie zur Zeit
des Vietnamkriegs geschildert, die späte Heimkehr des Sohns aus der
Gefangenschaft zu seiner großen Liebe, die verheiratet ist und eine Tochter
hat, und das Schicksal dieser Tochter, deren Vater nicht der Mann ist, mit dem
ihre Mutter verheiratet und bei dem sie aufgewachsen ist, sondern der
Heimkehrer. Jeder Roman stand für sich, aber zusammen waren sie das Bild einer
Epoche.
Kates neuer Roman spielte in der Gegenwart. Ein junges Paar, beide
berufstätig, beide erfolgreich, das keine eigenen Kinder haben kann, möchte
Kinder adoptieren und sucht im Ausland. Dabei gerät es von einer Komplikation
in die andere, steht vor medizinischen, bürokratischen und politischen
Hürden, begegnet engagierten Helfern und korrupten Händlern, findet sich in
komischen und gefährlichen Situationen. In Bolivien vor die Wahl gestellt, ein
reizendes Zwillingspaar zu adoptieren oder die kriminellen Hintermänner
auffliegen zu lassen und die Adoption aufs Spiel zu setzen, geraten Mann und
Frau in Streit. Die Bilder, die sie von sich selbst und vom anderen hatten,
ihre Liebe, ihre Ehe - nichts stimmt mehr. Am Ende
scheitert die Adoption und liegt die Zukunft, die sie sich vorgestellt hatten,
in Scherben. Aber ihr Leben ist offen für Neues.
Es
war noch dunkel, als er die letzte Seite auf den Stoß der gelesenen Seiten
legte. Er machte das Licht aus und das Fenster auf, atmete die kühle Luft und
sah den Reif auf der Wiese. Er mochte das Buch. Es war spannend, bewegend und
mit einer Leichtigkeit erzählt, die für Kate neu war. Die Leser würden das Buch
lieben; sie würden mithoffen und mitleiden und gerne das offene Ende
weiterdenken.
Aber
hatte Kate ihm das Manuskript aus Vertrauen gegeben? Das Paar, dessen Leben
offen ist für Neues - sollten das Kate und er sein? Wollte sie ihn warnen?
Wollte sie ihm sagen, dass ihr altes Leben nicht mehr stimmt, und ihn auffordern,
sich auf ein neues Leben einzustellen? Er schüttelte den Kopf und seufzte. Nur
das nicht. Aber vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht feierte sie mit
dem Ende des Buchs, dass er und sie ein neues Leben angefangen hatten. Sie
waren nicht das Paar, dessen Leben in Scherben lag. Sie waren das Paar, dessen
Leben in Scherben gelegen hatte und das sein neues Leben bereits begonnen hat.
Er
hörte die ersten Vögel. Dann wurde es hell; die schwarze Masse des Walds hinter
der Wiese verwandelte sich in einzelne Bäume. Der Himmel verriet noch nicht, ob
der Tag sonnig oder wolkig werden würde. Sollte er mit Kate reden? Sie fragen,
ob das Manuskript eine Botschaft für ihn enthielt? Sie würde die Stirn runzeln
und ihn irritiert anschauen. Er musste sich schon selbst einen Reim auf das
Ende
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