Schlink,Bernhard
dritt zum Mittag- und zum Abendessen
um den Tisch saßen. Sogar wenn sie sich nach der Gutenachtgeschichte und dem
Gutenachtkuss für Rita zu ihm setzte und sie zusammen Musik hörten oder einen
Film sahen oder ein Buch lasen, war sie mit den Gedanken bei den Gestalten,
über die sie gerade schrieb.
Er
beschwerte sich nicht. Sie im Haus zu wissen, ihren Kopf im Fenster zu sehen,
wenn er im Garten arbeitete, ihre Finger auf den Tasten des Computers zu hören,
wenn er vor ihrer Tür stand, sie beim Essen gegenüber und am Abend neben sich
zu haben, sie nachts zu spüren, zu riechen, ihren Atem zu hören - es machte ihn
glücklich. Und er konnte von ihr nicht mehr erwarten. Sie hatte ihm gesagt, sie
könne nur schreibend leben, und er hatte ihr gesagt, er akzeptiere es.
Ebenso
akzeptierte er, dass er tagein, tagaus mit Rita alleine war. Er weckte sie,
wusch sie und zog sie an, frühstückte mit ihr, ließ sie beim Kochen und
Waschen und Putzen, bei der Gartenarbeit, beim Reparieren von Dach und Heizung
und Auto zusehen und helfen. Er beantwortete ihre Fragen. Er lehrte sie lesen,
viel zu früh. Er tollte mit ihr herum, obwohl ihm der Rücken weh tat, weil er
fand, sie müsse herumtollen.
Er
akzeptierte, was war. Aber er wünschte sich mehr Familiengemeinsamkeit. Er
wünschte sich, die Tage mit Kate und Rita wären nicht nur einmal in der Woche
sein Leben, sondern morgen wie heute und gestern.
Alles
Glück will Ewigkeit? Wie alle Lust? Nein, dachte er, es will Stetigkeit. Es
will in die Zukunft dauern und schon das Glück der Vergangenheit gewesen sein.
Fantasieren Liebende nicht, dass sie sich schon als Kinder begegnet sind und
gefallen haben? Dass sie auf demselben Spielplatz gespielt oder dieselbe Schule
besucht oder mit den Eltern am selben Ort Ferien gemacht haben? Er fantasierte
keine frühen Begegnungen. Er träumte, dass Kate und Rita und er hier Wurzeln
geschlagen hatten und jedem Wind, jedem Sturm trotzten. Immer und schon immer.
2
Sie
waren vor einem halben Jahr hierhergezogen. Er hatte letztes Jahr im Frühling
mit der Suche nach einem Haus auf dem Land angefangen und den Sommer über
gesucht. Kate war zu beschäftigt, um auch nur Bilder von Häusern im Internet
anzuschauen. Sie sagte, sie wolle ein Haus in der Nähe von New York. Aber
wollte sie nicht weg von den Anforderungen, die in New York an sie gestellt
wurden? Die sie nicht zum Schreiben und nicht zur Familie kommen ließen? Die
sie gerne abgelehnt hätte, aber nicht ablehnen konnte, weil zu einem Leben als
berühmte Schriftstellerin in New York einfach gehört, erreichbar und verfügbar
zu sein?
Im
Herbst fand er das Haus: fünf Stunden von New York, an der Grenze zu Vermont,
ab von größeren Städten, ab von größeren Straßen, verwunschen mit Teich und
Wiese im Wald gelegen. Er fuhr ein paar Mal alleine und verhandelte mit Makler
und Eigentümer. Dann kam Kate mit.
Sie
hatte anstrengende Tage hinter sich, schlief ein, als sie auf dem Highway
fuhren, und wachte erst auf, als sie auf die Landstraße wechselten. Das
Schiebedach war offen, und Kate sah über sich blauen Himmel und bunte Blätter.
Sie lächelte ihren Mann an. »Schlaftrunken, farbentrunken, freiheitstrunken -
ich weiß nicht, wo ich bin und wo wir hinfahren. Ich habe vergessen, wo ich
herkomme.« Die letzte Stunde der Fahrt ging durch die leuchtende Herbstlandschaft
des Indian Summer,
zuerst auf Landstraßen mit, dann auf Gemeindestraßen ohne gelben Streifen in
der Mitte, zuletzt auf dem holprigen Weg, der zum Haus führte. Als sie aus dem
Auto stieg und sich umsah, wusste er, dass sie das Haus mochte. Ihr Blick
schweifte über den Wald, die Wiese, den Teich, kam beim Haus zur Ruhe und
verweilte bei einem Detail nach dem anderen: der Tür unter dem von zwei dünnen
Säulen getragenen Vordach, den Fenstern, weder in Linie über- noch in Linie
nebeneinander, dem schiefen Schornstein, der offenen Veranda, dem Anbau. Das
mehr als zweihundert Jahre alte Haus hatte, obwohl vom Lauf der Zeit
geschunden, Würde bewahrt. Kate stieß ihn an und zeigte mit dem Blick auf die
Eckfenster im ersten Stock, zwei dem Teich und eines der Wiese zugewandt. »Ist
das ...«
»Ja,
das ist dein Zimmer.«
Der
Keller war trocken, die Böden waren stabil. Vor dem ersten Schnee wurde das
Dach neu gedeckt und die neue Heizung eingebaut, so dass der Fliesenleger, der
Elektriker, der Schreiner und der Maler auch im Winter arbeiten konnten. Beim
Einzug im Frühling waren die Dielen noch nicht
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