Schlink,Bernhard
es
wird.«
9
Es
wurde nichts. Mitten in der Umarmung kam der Schmerz. Er explodierte im
Steißbein und schickte seine Wellen in den Rücken und in die Hüften und in die
Oberschenkel. Er war schlimmer als der schlimmste Schmerz, den er bisher gehabt
hatte. Er vernichtete sein Begehren, sein Fühlen, sein Denken. Er machte ihn
zu seinem Geschöpf, das nicht über den Schmerz hinauskonnte, das sich nicht
einmal danach sehnen konnte, dass er aufhören würde. Ohne es zu wollen oder
auch nur zu merken, stöhnte er auf. »Was ist?«
Er
rollte auf den Rücken und presste beide Hände gegen die Stirn. Was sollte er
sagen? »Ich glaube, ich habe einen Ischias, wie ich noch keinen hatte.« Mühsam
stand er auf. Im Bad nahm er vom Novalgin, das ihm der Arzt für Krisen gegeben
hatte. Er stützte seine Arme auf das Waschbecken und sah in den Spiegel. Obwohl
er sich fühlte, wie er sich noch nie gefühlt hatte, war sein Gesicht, wie es
immer war. Das dunkelblonde Haar mit grauen Schläfen und Strähnen, die zwischen
Grau und Grün schillernden Augen, das von tiefen Furchen über der Nase und von
der Nase zum Mund gezeichnete Gesicht, die Härchen, die ihm aus der Nase wuchsen
und die er morgen stutzen würde, der schmale Mund - es tat ihm gut, seine
Schmerzen mit dem vertrauten Gesicht zu teilen und ihm mit trotzigem Mund zu
versichern und sich mit trotzigem Mund versichern zu lassen, es stecke noch
Leben in dem alten Hund. Als die Schmerzen schwächer wurden, ging er zurück ins
Schlafzimmer.
Seine
Frau war eingeschlafen. Er setzte sich auf den Bett rand, vorsichtig, damit sie nicht aufwachte. Ihre Lider zitterten.
Ob sie erst halb im Schlaf und halb noch im Tag war? Ob sie träumte? Was mochte
sie träumen? Er kannte ihr Gesicht so gut. Das junge Gesicht, das darin
wohnte, und das alte. Das kindliche, freudige, arglose und das müde, bittere. We hielten die zwei verschiedenen Gesichter es miteinander aus?
Er
blieb sitzen. Er wollte seinen Schmerz nicht provozieren. Sein Schmerz hatte
ihm gezeigt, dass er bei ihm nicht nur zu Hause, sondern dass er der Herr im
Haus war. Jetzt hatte er sich in ein hinteres Zimmer zurückgezogen, aber die
Türen aufgelassen, um zur Stelle zu sein, sollte ihm nicht der gehörige Respekt
erwiesen werden.
Ihn
rührten die Haare seiner Frau. Sie waren braun gefärbt und wuchsen grau und
weiß nach - der Kampf gegen das Älterwerden, wieder und wieder gekämpft,
verloren, aber nicht verloren gegeben. Würde seine Frau ihre Haare nicht
färben, sähe sie mit ihrer geschwungenen Nase, ihren hohen Backenknochen, ihren
Falten und ihren Augen wie eine weise alte Indianerin aus. Er hatte nie
herausgefunden, ob ihre Augen manchmal unergründlich schauten, weil ihre
Gefühle und Gedanken so tief oder weil sie so leer waren. Er würde es nicht
mehr herausfinden.
Sie
entschuldigte sich am nächsten Morgen. »Es tut mir leid. Der Champagner, der
Wein, das Essen, das Miteinander-Schlafen, mit dem Schluss war, als es schön
wurde, dein Ischias - es war ein bisschen viel. Da bin ich einfach eingeschlafen.«
»Nein,
mir tut es leid. Der Arzt hat mir gesagt, dass ich mit Ischiasattacken rechnen
und dann Tabletten nehmen muss. Ich ahnte nicht, dass sie so heftig und so im
falschen Augenblick kommen würden.« Er hatte Angst, sich auf die Seite zu
legen, und streckte den Arm aus.
Sie
legte den Kopf auf seine Schulter. »Ich muss Frühstück machen.«
»Nein,
musst du nicht.«
»Muss
ich doch.«
Sie
spielte nur. Sie wollte, was auch er wollte. Er bat seinen Schmerz, im
hinteren Zimmer zu bleiben, für diesen Morgen, für diese Stunde. »Setzt du dich
auf mich?«
10
Als
sie hinunterkamen, waren die anderen mit dem Frühstück fast fertig. Ariane sah
ihre Großeltern an, als wisse sie, warum sie spät dran waren. Die zwölfjährige
Ariane? Aber er wurde rot, und seine Frau wurde es auch. Dann, als wolle sie
der Clique zeigen, dass sie und er etwas miteinander hatten, gab sie ihm einen
Kuss.
Gegen
Mittag holte er seinen alten Freund am Bahnhof ab. Der Zug fuhr ein und hielt,
und weil der Wagen zu hoch für den Bahnsteig oder der Bahnsteig zu niedrig für
den Wagen war, musste sein Freund einen kleinen Sprung machen. Er machte ihn
mit resigniertem Lächeln. Als sei er darauf gefasst, zu stürzen und statt
eines kurzen Besuchs bei einem alten Freund einen langen Aufenthalt in einem
Provinzkrankenhaus vor sich zu haben.
Resigniert,
als sei das Spiel aus, bevor es beginnt, zugleich von heiterem
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