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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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Charme, als sei
das zwar so, mache aber nichts so war er immer schon. So hatte er studiert,
ohne großen Aufwand und Ehrgeiz, aber freundlich gegen jedermann und bei
jedermann beliebt, auch bei denen, die ihn prüften, und später bei denen, die
ihn einstellten. Er wurde ein erfolgreicher Rechtsanwalt, der seinen Erfolg
seinem fachlichen Können und ebenso seinem Umgang mit Mandanten, Gegnern und
Richtern verdankte. Er charmierte sie. Er charmierte auch die Frauen und Kinder
seiner Freunde; sie liebten ihn, obwohl auch unter seinen Freunden der eine
und andere eine Frau geheiratet hatte, die den Mann für sich haben wollte, ohne
alte Freunde.
    Sohn
Helmut mochte den Freund besonders; als Kind war er manchmal mit dem Vater und
ihm in Ferien gefahren, Männerferien. Im Winter liefen sie Ski, und wenn er
nicht mehr konnte oder wollte, nahm ihn der Freund, der in Jeans und Mantel die
Pisten hinunterfegte, zwischen die Beine. Für den kleinen Jungen war der Freund
mit dem wehenden dunklen Mantel, der ihn sicher und schnell ins Tal brachte,
ein Held wie Batman. Später
beriet er ihn im Studium und im Beruf; ohne ihn hätte Helmut sich nicht
entschieden, Rechtsanwalt zu werden. Er wäre gerne zum Bahnhof mitgekommen.
Aber die Fahrten vom Bahnhof nach Hause und am nächsten Abend vom Haus zum
Bahnhof waren für die beiden Freunde die einzigen Gelegenheiten, miteinander alleine
zu sein.
    Auf
der Fahrt redeten sie über den Ruhestand, die Familien, den Sommer. Dann
fragte der Freund: »Was macht der Krebs?«
    »Lass
uns oben«, er zeigte zu dem Berg, auf den die Straße führte, »halten und ein
paar Schritte laufen.« Er hatte sich wieder und wieder gefragt, ob er dem
Freund von seiner Absicht erzählen sollte. Sie hatten sonst keine Geheimnisse
voreinander, und über den Krebs hatten sie umso leichter gesprochen, als beide
das gleiche Schicksal teilten; bei beiden war vor Jahren Krebs diagnostiziert
worden, beide Male ein verschiedener und verschieden verlaufender, aber beide
Male mit Operation und Bestrahlung und Chemotherapie. Aber wie sollte der
Freund mit dem Wissen um seine Absicht der Familie begegnen?
    Sie
gingen über die Höhe. Zur Rechten begann der Wald, zur Linken hatten sie den
Blick auf den See, die Berge und in der Ferne die Alpen. Es war warm, die
weiche, satte Wärme des Sommers.
    »Es
ist eine Frage der Zeit, bis die Knochen es nicht mehr machen. Bis sie bröseln
und brechen und bis der Schmerz unerträglich wird. Manchmal kriege ich einen
Vorgeschmack, aber noch geht's. Was macht dein Krebs?«
    »Er
hält still, schon seit vier Jahren. Letzten Monat stand die Untersuchung an,
und ich bin erstmals einfach nicht gegangen.« Fatalistisch hob der Freund die
Hände und ließ sie wieder sinken. »Was machst du, wenn der Schmerz unerträglich
wird?«
    »Was
würdest du machen?«
    Sie
liefen eine ganze Weile, ohne dass der Freund antwortete. Dann lachte er. »Den
Sommer genießen, so gut es geht. Was sonst?«
     
    11
     
    Nach
dem Abendessen saß er in der Ecke des Sofas und sah den anderen zu. Sie
spielten ein Spiel, bei dem höchstens acht Personen mitspielen durften. Er
konnte sich, ohne aufzufallen, immer wieder anders hinsetzen und die Kissen
mal hinter den Rücken, mal gegen die Hüfte, mal unter den Oberschenkel legen.
Jede Veränderung brachte Erleichterung, bis der Schmerz sich in der neuen
Haltung eingerichtet hatte wie in der alten. Er hatte Novalgin genommen, aber
es half nicht mehr. Was jetzt? Sollte er in die Stadt fahren und den Arzt um
Morphin bitten? Oder war der Zeitpunkt gekommen, die Flasche aus dem
Weinkühlschrank zu holen, in dem sie hinter einer halben Flasche Champagner versteckt
war, und den Cocktail zu trinken?
    Wenn
er sich seinen letzten Abend vorgestellt hatte, hatte er ihn sich schmerzfrei
vorgestellt. Jetzt merkte er, dass es nicht einfach war, den richtigen Abend zu
finden. Je länger es mit ihm ging und je schlimmer es um ihn stand, desto
seltener würden schmerzfreie Abende sein, desto willkommener, desto
unverzichtbarer. Wie sollte er einen solchen Abend an den Tod preisgeben?
Andererseits wollte er nicht in Schmerzen sterben. Ob Morphin die Lösung war?
Ob mit ihm die schmerzfreien Abende nicht mehr unverzichtbare Seltenheiten,
sondern machbare Gelegenheiten sein würden?
    Türen
und Fenster standen auf, und der laue Wind brachte Mücken vom See. Als er die
Mücke auf dem linken Arm mit der rechten Hand treffen wollte, konnte er sie
nicht heben. Die Hand gehorchte ihm nicht.

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