Schlink,Bernhard
den Abendzug. Er hatte das Auto am
Bahnhof abgestellt, fragte sich, ob er fahren könne, war aber nicht anders
belehrt worden und kam nach einer Fahrt über leere Straßen sicher an. Das Haus
lag dunkel. Wenn alle schon schliefen, hatte er keine Eile. Er konnte sich auf
die Bank am See setzen. Er konnte genießen, dass heute Abend der Schmerz sich
nicht nur in ein hinteres Zimmer zurückgezogen hatte, sondern verlässlich eingeschlossen
war.
Ja,
Morphin war die Lösung. Mit ihm war ein schmerzfreier Abend tatsächlich nicht
mehr eine unverzichtbare Seltenheit, sondern eine machbare Gelegenheit. Er
fühlte sich leicht; sein Körper schmerzte nicht nur nicht, sondern pulsierte
weich und fest, hielt ihn, trug ihn, hatte Flügel. Ohne sich zu rühren, konnte
er nach den Lichtern am anderen Ufer des Sees und sogar nach den Sternen
greifen.
13
Er
hörte Schritte und erkannte den Gang seiner Frau. Er rückte auf die eine Seite
der Bank, damit sie auf der anderen Seite Platz hätte. »Du hast das Auto
gehört?«
Sie
setzte sich, ohne zu antworten. Als er den Arm um ihre Schultern legen wollte,
beugte sie sich vor, so dass seine Geste ins Leere ging. Sie hielt die Flasche
mit dem Cocktail hoch und fragte: »Ist das, was ich denke?«
»Was
denkst du?«
»Spiel
kein Spiel mit mir, Thomas Wellmer. Was ist es?«
»Es
ist ein besonders starkes Schmerzmittel, das gekühlt gelagert werden muss und
nicht in die Hände der Enkelkinder geraten soll.«
»Deshalb
hast du es hinter der Champagnerflasche im Weinkühlschrank versteckt?«
»Ja.
Ich verstehe nicht, was du ...«
»Ich
habe besonders starke Schmerzen. Seit ich die Flasche gefunden habe, weil ich
für dich und mich ein Essen mit Champagner vorbereiten wollte, habe ich
besonders starke Schmerzen. Also trinke ich die Flasche am besten aus.« Sie
schraubte den Deckel ab und hob die Flasche zum Mund. »Mach das nicht.«
Sie
nickte. »Eines Abends, während wir zusammensitzen und es schön haben, willst du
rausgehen, die Flasche austrinken, wieder reinkommen und einschlafen. Sagst du
uns davor noch, dass du besonders müde bist und vielleicht einschlafen wirst
und wir dich schlafen lassen sollen?«
»Ich
habe das nicht so genau geplant.«
»Aber
du wolltest es machen, ohne es mir zu sagen, ohne mich zu fragen, ohne mit mir
zu reden. So genau hast du es schon geplant. Stimmt's?«
Er
zuckte die Schultern. »Ich verstehe nicht, was du hast. Ich wollte gehen, wenn
ich den Schmerz nicht mehr ertrage. Ich wollte so gehen, dass niemand ein
Problem hat.«
»Erinnerst
du dich an unsere Hochzeit? Bis dass der Tod euch scheidet? Nicht bis du dich
beim Tod einschmeichelst und mit ihm davonstiehlst. Und erinnerst du dich, dass
ich mich nicht auf das Glück eines Sommers einlassen wollte, das nach wenigen
Wochen vorbei ist? Hast du gedacht, dass ich die Wahrheit nicht herausfinde?
Oder dass du, wenn ich sie herausfinde, tot bist? Dass ich dich dann nicht mehr
zur Rede stellen kann? Du hast keine Geliebte gehabt, aber wie du mich jetzt
betrogen hast, ist nicht besser, nein, es ist schlimmer.«
»Ich
dachte, es kommt nicht raus. Ich dachte auch, dass es ein schöner Abschied ist.
Was hättest du ...«
»Ein
schöner Abschied? Du gehst, und ich weiß nicht, dass du gehst? Das soll ein
schöner Abschied sein? Es ist gar kein Abschied. Jedenfalls keiner, den ich von
dir nehme. Und du nimmst auch nicht von mir Abschied, sondern von dir, und
willst mich als Statistin dabeihaben.«
»Ich
verstehe noch immer nicht, warum du so empört...«
Sie
stand auf. »Ja, du verstehst nicht, was du machst. Ich werde es morgen früh den
Kindern sagen und fahren. Mach hier, was du willst. Ich werde nicht als
Statistin bleiben, und ich wäre erstaunt, wenn die Kinder blieben.« Sie stellte
die Flasche auf die Bank und ging.
Er
schüttelte den Kopf. Etwas war schiefgelaufen. Er wusste nicht genau, was. Aber
es bestand kein Zweifel, dass etwas nicht so gelaufen war, wie es hätte laufen
sollen. Er würde am nächsten Morgen mit seiner Frau reden müssen. So empört
hatte er sie lange nicht mehr erlebt.
14
Sie
lag nicht im gemeinsamen Bett, als er sich hinlegte, und nicht, als er
aufstand. Er machte mit den Kindern Frühstück und weckte die Enkelkinder. Als
alle um den Tisch saßen, kam sie. Sie setzte sich nicht.
»Ich
fahre in die Stadt. Euer Vater will sich an einem der nächsten Abende im Kreis
seiner Lieben umbringen. Ich habe es nur durch Zufall herausgefunden; er wollte
mir und
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