Schlink,Bernhard
so
lange gebraucht habe, bis ich die Freiheit des Ruhestands begriffen habe. An
der Universität ist mit dem Ruhestand nicht so radikal Schluss wie in einer
Behörde; man hat noch Doktoranden und macht noch ein Seminar und sitzt noch in
einer Kommission und denkt, man müsste schreiben, was man immer schreiben
wollte und wozu man nie Zeit hatte. Es ist, wie wenn du den Motor abstellst
und im Leerlauf weiterrollst. Wenn die Straße dann noch ein bisschen abschüssig
ist...«
»Du
bist das Auto, dem der Ruhestand den Motor abgestellt hat. Wer ist die
abschüssige Straße?«
»Alle,
die mich behandelt haben, als würde der Motor noch laufen.«
»Ich
muss dich also besonders behandeln. Nicht, als würde der Motor noch laufen,
sondern als wäre er aus. Dann...«
»Nein,
du musst nichts tun. Nach drei Jahren rollt das Auto nicht mehr.«
»...dann
kümmerst du dich ab jetzt um die Enkelkinder und schneidest die Hecke?«
Er
lachte. »Und lasse die Hände nicht von dir.«
Sie
saßen Seite an Seite, und er spürte ihre Skepsis. Er spürte sie in ihrer
Schulter, ihrem Arm, ihrer Hüffe, ihrem Oberschenkel. Wenn er noch mal den Arm
um sie legen würde, würde sie ihn vielleicht nicht abschütteln - sie hatten
miteinander geredet und einander zugehört. Aber sie würde darauf warten, dass
er ihn wieder wegnähme. Oder würde sie nach einer Weile den Kopf an seine
Schulter legen? Wie sie beim Pfannkuchenbacken die Arme um ihn gelegt hatte,
nicht als Einverständnis, nicht als Versprechen, nur so?
8
Er
warb um sie. Morgens brachte er ihr Tee ans Bett; wenn sie im Garten arbeitete,
brachte er ihr Limonade; er schnitt die Hecke und mähte den Rasen; er machte es
sich zur Regel, abends zu kochen, meistens unterstützt von Ariane; er war für
die Enkelkinder da, wenn sie sich langweilten; er achtete darauf, dass der
Vorrat an Apfelsaft, Mineralwasser und Milch nicht ausging. Jeden Tag lud er
seine Frau zum Spaziergang ein, nur sie und er, und zuerst wollte sie rasch
wieder nach Hause und an die Arbeit, aber dann ließ sie ihn die Wege ausdehnen
und manchmal ihre Hand halten - bis sie ihre Hand brauchte, weil sie etwas
aufheben oder pflücken und untersuchen wollte. Eines Abends fuhr er mit ihr in
das Restaurant am anderen Ufer des Sees, das einen Stern hatte und wo man ihnen
das Abendessen auf einer Wiese unter Obstbäumen servierte. Sie sahen auf das
Wasser, das im Licht der Abendsonne wie geschmolzenes Metall glänzte, Blei mit
einem Hauch von Bronze, glatt, bis zwei Schwäne mit klatschendem Flügelschlag
landeten.
Er
legte seine Linke auf den Tisch. »Du weißt, dass Schwäne ...«
»Ich
weiß.« Sie legte ihre Hand auf seine.
»Wenn
wir zu Hause sind, möchte ich mit dir schlafen.«
Sie
nahm ihre Hand nicht weg. »Weißt du noch, wann wir das letzte Mal miteinander
geschlafen haben?«
»Vor
deiner Operation?«
»Nein,
es war danach. Ich dachte, es ginge wieder. Du hast mir gesagt, dass ich so
schön bin, wie ich davor war, und dass du die neue Brust so liebst, wie du die
alte geliebt hast. Aber dann musste ich ins Bad und habe die rote Narbe gesehen
und gemerkt, dass es nicht ging und dass alles nur Anstrengung war, ich habe
mich angestrengt, und du hast dich angestrengt. Du hast verständnisvoll und
rücksichtsvoll reagiert und gesagt, dass du mich nicht drängen willst. Dass
ich ein Signal geben soll, wenn ich so weit bin. Aber als ich kein Signal gab,
war's dir auch recht, und du hast auch keines gegeben. Dann merkte ich, dass
es vor der Operation nicht anders war und dass damals schon nichts passierte,
wenn ich kein Signal gab. Ich mochte kein Signal mehr geben.«
Er
nickte. »Verlorene Jahre - ich kann dir nicht sagen, wie leid es mir um sie
ist. Ich dachte damals, ich müsste es mir und den anderen beweisen und Rektor
werden oder Staatssekretär oder Präsident der Vereinigung, und weil du keinen
Anteil daran nahmst, habe ich mich von dir verraten gefühlt. Dabei hattest du
recht. Wenn ich zurückschaue, haben die Jahre kein Gewicht. Sie waren nur laut
und schnell.«
»Hattest
du eine Geliebte?«
»O nein.
Ich habe außer der Arbeit nichts und niemanden an mich herankommen lassen.
Anders hätte ich sie nicht geschafft.«
Sie
lachte leise. Weil sie sich an seine damalige Arbeitswut erinnerte? Weil sie
erleichtert war, dass er damals keine Geliebte hatte?
Er
bat um die Rechnung.
»Meinst
du, wir können es noch?«
»Ich
habe so viel Angst wie beim ersten Mal. Oder noch mehr. Ich weiß nicht, wie
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