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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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Als er sich anders setzte, ging es
wieder, und es ging auch, als er wieder die Haltung einnahm, in der ihm die
Hand gerade nicht gehorcht hatte. Er probierte verschiedene Haltungen, und in
jeder konnte er die Hand heben, so dass er sich schließlich fragte, ob er sich
das Versagen nur eingebildet hatte. Aber er wusste es besser, und er wusste
auch, dass wieder etwas geschehen war, hinter das es nicht mehr zurückging.
    Das
Spiel war zu Ende, und der Freund erzählte Fälle aus seiner Praxis. Die Kinder
hatten früher von seinen Fällen nicht genug kriegen können, und die Enkelkinder
konnten es jetzt auch nicht. Es beschämte ihn. Was hatte er seinen Kindern zu
erzählen gehabt? Was hatte er seinen Enkelkindern zu erzählen? Dass Kant ein
guter Billardspieler war und sich mit Billardspielen Geld fürs Studium verdiente,
dass Hegel mit seiner Frau das Familienleben von Martin Luther und Katharina
von Bora imitierte, dass Schopenhauer seine Mutter und seine Schwester lausig
behandelte und dass Wittgenstein sich um seine Schwester rührend kümmerte - er
kannte ein paar Philosophenanekdoten und ein paar Anekdoten aus der Geschichte,
die ihm sein Großvater erzählt hatte. Aus seiner eigenen Arbeit wusste er
nichts Spannendes zu erzählen - was sagte das über ihn? Über seine Arbeit?
Über die analytische Philosophie? War sie auch nur eine raffinierte Vergeudung
menschlicher Intelligenz?
    Dann
ließ der Freund sich bitten und setzte sich ans Klavier. Er lächelte ihm zu
und spielte die Chaconne aus der Partita
in d-Moll, die sie als Studenten von Menuhin gehört und
lieben gelernt hatten. Eine Bearbeitung für Klavier - er hatte nicht gewusst,
dass es sie gab und dass der Freund sie spielte. Hatte er sie für ihn geübt?
Schenkte er sie ihm zum Abschied? Die Musik und das Geschenk des Freundes rührten
ihn so, dass ihm die Tränen kamen und auch nicht aufhörten, als der Freund
Jazz spielte - das, was die Kinder und Enkelkinder eigentlich hören wollten.
    Seine
Frau sah es, setzte sich zu ihm und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich
weine auch gleich. Der Tag hat so schön angefangen und hört so schön auf.«
    »Ja.«
    »Wollen
wir aufstehen und hochgehen? Wenn die anderen merken, dass wir nicht mehr da
sind, verstehen sie schon.«
     
    12
     
    Dann
war Halbzeit. Er wusste, dass die zweite Hälfte des gemeinsamen Sommers
schneller vergehen würde als die erste - und die erste war im Nu vergangen. Er
dachte darüber nach, was er den Kindern noch sagen könne. Dagmar - dass sie
sich nicht so viele Sorgen um die Kinder machen solle? Dass sie eine gute
Biologin sei, ihre Gabe nicht vergeuden und wieder arbeiten solle? Dass sie
ihren Mann verwöhne und dass das weder ihm noch ihr guttue? Helmut - ob ihn
wirklich interessiere, welche Firma mit welcher fusioniert und welche Firma
welche übernimmt? Ob ihn das viele Geld eigentlich interessiere, das er
anhäuft? Ob er, das Vorbild des alten Freundes vor Augen, nicht ein anderer
Rechtsanwalt habe werden wollen, als er jetzt ist?
    Nein,
das ging nicht. Dagmar hatte nun einmal einen aufgeblasenen Dummkopf
geheiratet, und er konnte nur hof fen, dass sie
es nicht merken und sich von seinem Reichtum und seinen guten Manieren weiter
blenden lassen würde. Helmut war auf den Geschmack des Geldes gekommen und
süchtig danach geworden, und seine Frau genoss die Früchte. Vielleicht hatten
beide Kinder sich aus Unsicherheit auf ein Leben der Äußerlichkeit
eingelassen, und vielleicht hatte er ihnen nicht genug Sicherheit gegeben.
Jetzt konnte er sie ihnen auch nicht mehr geben. Er konnte ihnen sagen, dass er
sie liebte. Was Eltern und Kinder in amerikanischen Filmen einander mit
Leichtigkeit sagten, musste er auch sagen können.
    Was
immer mit seinen Kindern nicht stimmte - in diesem Sommer waren sie
anspruchslos, verträglich und liebevoll. An den Enkelkindern hätte er nicht
eine solche Freude, wenn die Kinder es nicht recht machen würden. Nein, er
konnte den Kindern nichts Wegweisendes sagen. Er konnte ihnen nur sagen, dass
er sie liebte.
    Eines
Tags waren die Schmerzen so stark, dass er den Zug in die Stadt nahm und den
Arzt um Morphin bat. Der Arzt gab ihm das Betäubungsmittelrezept unter Zögern
und mit allerlei Belehrungen über Dosierung und Wirkung. Freundlicher als der
Arzt war die Apothekerin, bei der er seit Jahrzehnten kaufte und die ihm mit
traurigem Lächeln die Packung und ein Glas Wasser gab. »Es ist also so weit.«
    Er
verpasste den Nachmittags zu g und nahm

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