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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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wirklich erfasst.
    Als
der Schmerz sich meldete, war er fast froh. Wie man fast froh ist, wenn man
sich verlassen an einem fremden Ort findet und jemandem begegnet, den man nicht
mag, mit dem einen aber eine gemeinsame Vergangenheit auf der Schule oder
Universität oder im Betrieb oder Büro verbindet. Die Begegnung lenkt von der
Einsamkeit ab. Außerdem brachte der Schmerz ihm in Erinnerung, warum er hier
war: nicht um in der Familie aufzugehen, sondern um von ihr Abschied zu nehmen.
Nun war der Abschied eben ein bisschen früher und ein bisschen anders gekommen.
    Ja,
so war es. Oder doch nicht? Er stand auf und wollte die erste Ladung Wäsche zum
Trocknen aufhängen und die nächste Ladung waschen. Noch bevor er das Haus
erreichte, wusste er, dass der Abschied, der hinter ihm lag, nicht nur ein
bisschen früher und ein bisschen anders gekommen war. Er hatte mit dem
Abschied, der vor ihm gelegen hatte, nichts gemein. Der Abschied, der hinter
einem liegt, ist passiert. Beim Abschied, der vor einem liegt, gibt es die
Möglichkeit, dass etwas ihn verzögert, dass etwas ihn verhindert, dass ein
Wunder geschieht. Er glaubte nicht an Wunder. Aber er merkte, dass er sich
etwas vorgemacht hatte. Er hatte sich vorgestellt, der Schmerz werde immer
stärker, immer schwerer zu ertragen und schließlich unerträglich werden und
die Entscheidung zum Abschied werde sich von selbst ergeben. Stattdessen war
mit dem Schmerz auch das Schmerzmittel stärker geworden. Die Entscheidung, den
Cocktail zu trinken und den Abschied zu nehmen, ergab sich nicht von selbst.
Er musste sie treffen, und weil er noch Zeit gehabt hatte, hatte er sich nicht
eingestanden, wie schwer sie ihm fiel. Wenn er sich den Arm brechen würde oder
das Bein - wäre es dann so weit?
    Er
hatte manchmal gesehen, wie seine Frau Wäsche aufhängte. Sie wischte die
Wäscheleine ab, die im Garten gespannt war, brachte den Wäschekorb aus dem
Keller, schlug die Wäschestücke aus und klemmte sie mit Wäscheklammern fest,
die sie aus einem Beutel nahm, den sie wie eine Schürze umgebunden hatte. So
machte er es auch. Sich nach den Stücken bücken, sie ausschlagen, die Klammern
aus dem Beutel nehmen, sich nach der Leine strecken und die Stücke festklemmen
- bei jeder Bewegung sah er seine Frau vor sich, nein, fühlte er sie, wie sie
dieselbe Bewegung machte. Ihn ergriff das Mitgefühl mit dem Körper seiner Frau,
der die Mühen des Berufs, des Haushalts und der Kinder, die Schmerzen der
Geburten und der Fehlgeburt, die Anfälligkeit für Blasenentzündungen und die
Überwältigungen durch Migräne ausgehalten hatte, so stark, dass er zu weinen
begann. Er wollte aufhören. Aber er konnte nicht. Er setzte sich auf die Stufen
der Veranda und sah durch die Tränen, wie der Wind die Wäsche blähte, sinken
ließ und wieder hochwehte.
    Nichts
würde von dem letzten Sommer bleiben, den er so sorgfältig eingefädelt hatte.
Wieder hatte er alle Zutaten beieinandergehabt, aber das Glück hatte nicht
gestimmt. Es war anders als die anderen Male; eine Weile lang war er wirklich
glücklich gewesen. Aber das Glück hatte nicht bleiben mögen.
     
    16
     
    Am
selben Tag fing er an zu horchen. Er war im Garten oder am See und horchte, ob,
was er gerade gehört hatte, das Auto seiner Frau war. Er war im ersten Stock,
hörte im Erdgeschoss ein Geräusch und horchte auf Schritte. Er war im Erdgeschoss,
hörte ein Geräusch im ersten Stock und horchte auf Stimmen.
    In
den nächsten Tagen war er sich manchmal sicher, er hätte seine Frau vorfahren
oder die Treppe hochkommen oder Matthias zu ihm rennen oder Ariane nach ihm
rufen gehört. Dann trat er vor die Tür oder an die Treppe oder drehte sich um,
und niemand war da. An einem Tag ging er immer wieder vom Haus an den See, weil
sich in seinem Kopf die Idee festgesetzt hatte, seine Frau werde mit einem Boot
kommen, sich auf die Bank setzen und darauf warten, dass er sich zu ihr setze.
War er unten an der Bank, kam ihm die Idee absurd vor. Aber wenn er wieder im
Haus war, dauerte es nicht lang, bis er meinte, den gedrosselten Motor eines
anlegenden Boots zu hören.
    Als
er nur mehr die Leere von Haus und Garten hörte, ließ er sich gehen. Das
morgendliche Ritual des Duschens und Rasierens und Anziehens ging über seine
Kräfte. Wenn er einkaufen fuhr, schlüpfte er mit dem Schlafanzug in eine Hose
und zog eine Jacke über und scherte sich nicht um die Blicke der anderen. Im
Lauf des Nachmittags fing er zu trinken an, und am frühen Abend

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