Schlink,Bernhard
Gericht
besuchte und bei einer Verhandlung erlebte. Er wirkte entspannt, und die
Neigung seines Kopfs und die Andeutung eines Lächelns versprachen zugewandtes
und aufmerksames Zuhören. Zugleich wahrte die Haltung Abstand; so entspannt
sich, wer sich auf die Menschen und auf die Situationen nicht einlässt, so
hält den Kopf und lächelt, wer sich hinter dem Lächeln versteckt und voller
Skepsis zuhört. Seit er sich verschiedentlich entsetzt dabei ertappt hatte, so
zu sitzen, wie sein Vater saß, wusste er es.
Er
fragte ihn nach seiner frühesten Erinnerung und erfuhr von dem Matrosenanzug,
den sein Vater als Dreijähriger zu Weihnachten bekommen hatte. Er fragte ihn
nach den Leiden und Freuden der Schule, und sein Vater wurde gesprächiger und
erzählte vom Drill beim Turnen, vom vaterländischen Geschichtsunterricht und
von seinen Schwierigkeiten mit Aufsätzen, bis er sie nach dem Vorbild von
Artikeln schrieb, die er in einem Buch im Schrank seines Vaters fand. Er
erzählte vom Tanzunterricht und von den Treffen der Primaner, bei denen
gesoffen wurde wie bei den Besäufnissen studentischer Verbindungen und nach
denen die, die sich besonders erwachsen fühlten, noch ins Bordell gingen. Nein,
er selbst sei nie mitgegangen und habe auch beim Trinken nur halbherzig
mitgetan. Als Student habe er sich geweigert, in eine Verbindung einzutreten,
obwohl sein Vater ihn gedrängt habe. Er habe studieren und auf der Universität
dem Reichtum des Geistes begegnen wollen, nachdem es auf der Penne nur Almosen
gegeben hatte. Er erzählte von Professoren, die er gehört, von
Veranstaltungen, die er besucht hatte, und wurde darüber müde.
»Du
kannst die Lehne tief erstellen und schlafen.«
Er
stellte die Lehne tiefer. »Ich ruhe nur aus.« Aber es dauerte nicht lange, bis
er schlief, schnarchend und manchmal schmatzend.
Sein
Vater im Schlaf - er merkte, dass er das noch nie erlebt hatte. Er konnte sich
nicht erinnern, als Kind mit seinen Eltern im Bett herumgetollt zu haben, bei
ihnen eingeschlafen oder aufgewacht zu sein. Ferien hatten seine Eltern ohne
die Kinder verbracht; er und seine Geschwister wurden zu Großeltern, Tanten und
Onkeln geschickt. Das fand er auch gut; er erlebte die Ferien immer als
Befreiung nicht nur von der Schule, sondern auch von den Eltern. Er sah zu seinem
Vater, sah die Bartstoppeln auf Kinn und Wangen, die Haare, die aus der Nase
und aus den Ohren wuchsen, den Speichel in den Mundwinkeln, die geplatzten
Adern an der Nase. Zugleich roch er seinen Vater, ein bisschen muffig und ein
bisschen säuerlich. Er war froh, dass es außer den Ritualen des Begrüßungs-
und des Abschiedskusses, die er meistens vermeiden konnte, keine
Zärtlichkeiten zwischen seinen Eltern und ihm gab oder gegeben hatte. Dann
fragte er sich, ob er dem Körper seines Vaters liebevoller begegnen würde, wenn
es sie gegeben hätte.
Er
tankte, und sein Vater drehte sich, so gut es ging, auf die Seite und schlief
weiter. Er stand im Stau, ein Krankenwagen bahnte sich den Weg mit Blaulicht
und Sirene, und sein Vater murmelte etwas, wachte aber nicht auf. Der tiefe
Schlaf seines Vaters ärgerte ihn; er berührte ihn als Ausdruck des guten
Gewissens, mit dem sein Vater selbstgerecht durchs Leben gegangen war und ihn
beurteilt und verurteilt hatte. Aber dann löste der Stau sich auf, er umfuhr
Berlin, durchfuhr Brandenburg und erreichte Mecklenburg. Die karge Landschaft
stimmte ihn melancholisch, die einsetzende Dämmerung milde.
»Wie
ist die Welt so stille und in der Dämmerung Hülle so traulich und so hold.«
Sein Vater war aufgewacht und zitierte Matthias Claudius. Als er ihn
anlächelte, lächelte sein Vater zurück. »Ich habe von deiner Schwester
geträumt, als sie klein war. Sie kletterte einen Baum hoch, höher und höher,
und dann flog sie in meine Arme, leicht wie eine Feder.«
Seine
Schwester war das Kind der ersten Frau seines Vaters, die im Kindbett
gestorben war und in der Familie als Himmelsmama geführt wurde, im Unterschied
zur zweiten Frau, die auf der Erde als Mama präsent war. Die zweite Frau war
die Mutter der beiden Söhne und war auch die Mutter der Schwester geworden; die
Kinder hatten sich immer voll und ganz als Geschwister und nie als
Halbgeschwister empfunden. Aber er hatte sich manchmal gefragt, ob die besondere
Liebe seines Vaters für seine Schwester die Fortsetzung der Liebe für die erste
Frau war. Die Dämmerung, das Lächeln, die Erzählung des Traums als Bekenntnis
einer Sehnsucht und
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