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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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noch mal gelesen, was er geschrieben hatte, hatte aber keinen
Durchschlag gemacht. Immerhin gab es eine fast fertige Fassung, die er wegen zu
vieler Fehler weggeworfen hatte. Er musste sie im Papierkorb finden.
    Als
er vor seinem Schreibtisch stand, sah er in der offenen Schublade einen Schlüssel.
Er nahm ihn heraus. Er hatte vergessen, dass es einen zweiten Schlüssel zur
Kassette gab. Er lachte und steckte ihn ein.
    Er
legte sich in seinem Arbeitszimmer aufs Sofa und schlief den Schlaf, den er in
der Nacht nicht geschlafen hatte. Als ihn nach zwei Stunden der Schmerz in der
Hand weckte, ging er an den See und setzte sich auf die Bank. Wenn sie nicht
verreist war, würde sie den Brief morgen haben. Wenn sie verreist war, könnte
es Tage dauern.
    Er
stand auf, holte den Schlüssel aus der Tasche und warf ihn, so weit er mit der
linken Hand konnte. Der Schlüssel blitzte im Licht der Sonne, blitzte auch
noch, als er ins Wasser sank. Ein paar kleine Wellen kreisten um die Stelle.
Dann war der See wieder glatt.
     
    Johann Sebastian
Bach auf Rügen
     
    1
     

Am
Ende des Films wollten ihm die Tränen kommen. Dabei hatte der Film gar kein Happy End; er endete nicht mit dem Versprechen einer glücklichen
Zukunft, sondern nur mit einer vagen Hoffnung. Die beiden, die füreinander
bestimmt waren, hatten sich verfehlt, sie würden sich aber vielleicht
wiederbegegnen. Die Frau hatte ihr Geschäft verloren, sie wagte aber einen
neuen Anfang.
    Sie
hatte ihr Geschäft verloren, weil ihre Schwester sie um ihr Geld gebracht
hatte. Sie konnte einen neuen Anfang wagen, weil ihr Vater, ein mürrischer
Alter, der manchmal schlecht und recht auf ihren Sohn aufpasste und meistens
voller törichter Ideen steckte, überraschend sein Haus verkaufte und ihr den
Lieferwagen schenkte, den sie brauchte. Danach standen Vater und Tochter auf
der Straße und sahen auf den Lieferwagen, sie den Kopf an seine Schulter
gelehnt und er den Arm um sie gelegt. Ihr Geschäft war das Reinigen von
Verbrechensschauplätzen, und in der letzten Szene machte der Vater sich mit der
Tochter an die Arbeit, im blauen Overall, mit weißer Atemschutzmaske und in der
Vertrautheit, die keine Worte braucht.
    Dass
ihm beim Happy End
eines Films die Tränen kommen wollten, passierte ihm immer öfter. In seiner
Brust wurde es eng, seine Augen wurden feucht, und bevor er reden konnte,
musste er sich räuspern. Aber die Tränen kamen nicht. Dabei hätte er gerne
geweint, nicht nur im Kino beim Happy End,
sondern auch, wenn ihn die Trauer über das Ende seiner Ehe oder den Tod seines
Freundes oder einfach über den Verlust seiner Lebenshoffnungen und -träume
überwältigte. Als Kind hatte er sich in den Schlaf geweint - er konnte es nicht
mehr.
    Das
letzte Mal, dass er richtig hätte weinen können, war vor vielen Jahren gewesen.
Er hatte mit seinem Vater eine der politischen Auseinandersetzungen, die damals
zwischen den Generationen üblich waren und in denen die Eltern alles bedroht
sahen, wofür sie gelebt hatten, und die Kinder alles verwehrt fanden, was sie
anders und besser machen wollten. Er verstand und respektierte den Schmerz
seines Vaters über den Verlust einer vertrauten und geliebten Welt und wollte
nur, dass sein Vater seinen Wunsch nach einer neuen Welt ebenso verstünde und
respektierte. Aber sein Vater beschimpfte ihn als unbedacht und unerfahren,
anmaßend, respekt- und verantwortungslos, bis ihm die Tränen kommen wollten.
Diesen Triumph mochte er dem Vater nicht lassen. Er schluckte die Tränen runter
und konnte zwar nicht reden, bot aber seinem Vater die Stirn.
    Hätte
sein Vater sein Haus verkauft und ihm einen Lieferwagen geschenkt, wenn er
einen gebraucht hätte? Hätte sein Vater einen blauen Overall und eine weiße
Atemschutzmaske angezogen und ihm beim Reinigen von Verbrechensschauplätzen
geholfen? Er wusste es nicht. Es wäre für seinen Vater und ihn nicht um
Lieferwagen, Overalls und Atemschutzmasken gegangen. Hätte sein Vater ihn, wenn
er wegen seines politischen Engagements seine Stelle verloren hätte,
unterstützt? Ihm beim Neuanfang in einem anderen Beruf oder anderen Land
geholfen? Oder hätte er gefunden, es geschehe ihm recht und er verdiene keine
Hilfe?
    Selbst
wenn sein Vater ihm geholfen hätte - nie und nimmer wäre es in der wortlosen
Vertrautheit geschehen, die im Film zwischen Vater und Tochter bestand. Sie war
ein kleines Happy End
im großen vagen Ende des Films. Sie war ein kleines Wunder. Dabei durften einem
schon die

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