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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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gerne einschenken.
    »Woher
kommt deine Liebe zu Bach?«
    »Was
für eine Frage!«
    Der
Sohn gab nicht auf. »Dass der eine Mozart liebt und der andere Beethoven und
der Dritte Brahms, hat
Gründe. Mich interessiert, warum du Bach liebst.«
    Wieder
saß der Vater aufrecht, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme auf die
Lehnen gelegt und die Hände von den Lehnen hängend, den Kopf geneigt und mit
der Andeutung eines Lächelns. Er sah ins Leere. Der Sohn musterte das Gesicht
des Vaters, die hohe Stirn unter dem immer noch vollen grauen Haar, die tiefen
Kerben über der Nase und zwischen Nase und Mundwinkeln, die starken Backenknochen
und schlaffen Backen, die schmalen Lippen, den müden Mund und das kräftige
Kinn. Es war ein gutes Gesicht, das sah der Sohn, aber er sah nicht dahinter,
nicht, welche Sorgen die tiefen Kerben in die Stirn gegraben hatten, wessen der
Mund müde war, warum der Blick nichts hielt.
    »Bach
hat mich...« Er schüttelte den Kopf und setzte neu an. »Deine Großmutter war
eine kapriziöse, funkelnde Frau und dein Großvater ein gewissenhafter Beamter,
nicht frei von ...«
    Wieder
redete er nicht weiter. Der Sohn hatte die Großmutter als Junge ein paarmal
mit dem Vater im Heim besucht; sie saß im Rollstuhl, redete nicht, und aus
einem Gespräch zwischen Vater und Arzt hatte sich ihm der Begriff der
Altersdepression eingeprägt. Den Großvater hatte er nicht bewusst erlebt. Warum
konnte der Vater nicht über seine Eltern reden? »Bach versöhnt das
Widerstrebende. Das Helle und das Dunkle, das Starke und das Schwache, das Vergangene...«
Er zuckte die Schultern. »Vielleicht war es nur, dass ich mit Bach Klavier
gelernt habe. Ich habe zwei Jahre lang nichts außer Etüden spielen dürfen, und
danach waren die Notenbüchlein ein
Geschenk des Himmels.«
    »Du
hast Klavier gespielt? Warum spielst du nicht mehr? Wann hast du aufgehört?«
    »Ich
wollte im Ruhestand wieder Unterricht nehmen. Aber es hat sich nicht ergeben.«
Er stand auf. »Machen wir morgen nach dem Frühstück einen Spaziergang am
Strand? Ich glaube, Mama hat mir eine passende Hose eingepackt.« Er legte
seinem Sohn kurz die Hand auf die Schulter. »Gute Nacht, mein Junge.«
     
    6
     
    Wenn
er später an die Reise mit seinem Vater zurückdachte, war der Samstag nur
blauer Himmel und blaues Meer, Sand und Fels, Buchen- und Kiefernwälder, Felder
und Musik.
    Sie
gingen nach dem Frühstück los, er wieder in Jeans und Hemd und die Turnschuhe
über der Schulter, sein Vater in heller Leinenhose, einen Pullover um die
Hüften und Sandalen in der Hand. Als der Sand aufhörte, zogen sie die Schuhe
an. Sie kamen gut voran und waren nach ein paar Stunden am Kap. Sie redeten
nicht. Wenn er seinen Vater fragte, ob er wirklich weitergehen oder lieber
umkehren wolle, schüttelte sein Vater nur den Kopf.
    Am
Kap machten sie Rast, wieder ohne zu reden, ließen für den Heimweg eine Taxe
kommen, saßen schweigend im Wagen und sahen in die Landschaft. Im Hotel ruhten
sie, bis es Zeit war, zum Konzert in die Stadt zu fahren. Die Aula des
Gymnasiums war voll, und Vater und Sohn waren sich ohne Worte in der Freude über
den Schwung einig, mit dem musiziert wurde. »Bin ich froh, dass sie das Vierte Brandenburgische mit
Querflöten und nicht mit Blockflöten besetzen«, war der einzige Kommentar des
Vaters.
    Im
Hotel nahmen sie einen leichten späten Imbiss, hofften für den nächsten Tag
auf gutes Wetter, planten nach dem Frühstück einen Ausflug zu den Kreidefelsen
und wünschten einander eine gute Nacht.
    Er
nahm die halbvolle Flasche Wein mit aufs Zimmer und setzte sich auf den Balkon.
Das Zusammensein mit seinem Vater war wortlos gewesen wie die Zusammenarbeit
von Tochter und Vater am Ende des Films. Aber es hatte sich mehr nach wortlosem
Waffenstillstand angefühlt als nach wortloser Vertrautheit; sein Vater wollte
nicht wieder bedrängt, sondern in Ruhe gelassen werden, und er hatte ihn in
Ruhe gelassen. Warum bedrängten seine Fragen seinen Vater? Weil er sein Inneres
nicht nach außen kehren wollte, auch nicht gegenüber seinem Sohn? Weil in
seinem Inneren, dessen Türen und Fenster er nie geöffnet hatte, alles verdorrt
und erstorben war und er nicht wusste, was der Sohn von ihm wollte? Weil er
aufgewachsen war, bevor psychoanalytische und psychotherapeutische
Entblößungen alltäglich wurden, und ihm die Sprache für Mitteilungen aus seinem
Inneren fehlte? Weil er, was er auch tat und was ihm auch geschah, von den
beiden Ehen bis zu

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