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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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ausziehen
würdest?«
    »Nein.«
Er lachte. »Vielleicht versuche ich's morgen. Heute würde ich mich gerne ans
Meer setzen und auf die Wellen sehen. Wie wäre es hier?« Er sagte nicht, ob er
nicht mehr konnte oder nicht mehr wollte. Er zog die Hosenbeine hoch, damit sie
nicht an den Knien spannten, setzte sich im Schneidersitz in den Sand, sah aufs
Meer und sagte nichts mehr.
    Er
setzte sich neben seinen Vater. Als er sich von dem Gefühl befreit hatte, dass
sie eigentlich miteinander reden müssten, genoss er den Blick auf das ruhige
Meer und die weißen Wolken, den Wechsel von Sonne und Schatten, die salzige
Luft, den leichten Wind. Es war nicht zu warm und nicht zu kalt. Es war ein
vollkommener Tag.
    »Wieso
hast du meinen Aufsatz von 1945 gelesen?«
Es war die erste Frage, die sein Vater an ihn richtete, seit sie aufgebrochen
waren, er konnte nicht heraushören, ob misstrauisch oder einfach neugierig.
    »Ich
habe einem Kollegen beim Tageblatt einen Gefallen getan, und er hat mir eine Kopie deines
Aufsatzes geschickt. Ich vermute, er hat im Archiv geschaut, ob sich etwas
fände, das mich interessieren könnte.«
    Sein
Vater nickte.
    »Hattest
du, als du die Bekennende Kirche beraten hast, Angst?«
    Sein
Vater nahm die Beine aus dem Schneidersitz, streckte sie aus und stützte sich
auf die Ellbogen. Das sah unbequem aus und war es wohl auch, denn nach einer
Weile richtete er sich wieder auf und schlug die Beine wieder übereinander.
»Ich hatte lange vor, etwas über Angst zu schreiben. Aber als ich im Ruhestand
Zeit hatte, habe ich es nicht getan.«
     
    5
     
    Um
fünf begann das Konzert. Als sie um halb fünf vor dem Schloss parkten, in
dessen Saal das Konzert stattfand, waren die meisten Parkplätze frei. Er schlug
vor, bis zum Beginn des Konzerts im Schlossgarten zu spazieren. Aber sein Vater
drängte, und so setzten sie sich im leeren Saal in die erste Reihe und
warteten.
    »Es
ist das erste Mal, dass Rügen ein Bach-Fest ausrichtet.«
    »Die
Menschen müssen sich an alles erst gewöhnen. Sie mussten sich auch an Bachs
Musik erst gewöhnen. Du weißt, dass Bach im 19. Jahrhundert von Mendelssohn
entdeckt und aufgeführt wurde?« Der Vater erzählte von Bach und Mendelssohn,
vom Entstehen der Suite als einer Zusammenstellung von Tänzen im 16.
Jahrhundert, vom Aufkommen des Namens Partita neben dem Namen Suite im 17.
Jahrhundert, von Bachs Suiten und Partiten als seinen besonders auf
Leichtigkeit gestimmten Werken, von den frühen Fassungen mancher Suiten in den Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, vom
Entstehen der Französischen Suiten, der Englischen Suiten und
der Partiten zwischen 1720 und 1730, von den drei Französischen Suiten in Moll und den drei in
Dur und ihren verschiedenen Sätzen. Er erzählte lebhaft, freute sich an seinem
Wissen und an der Aufmerksamkeit seines Sohns. Er betonte, wie er sich auf die
Musik freue.
    Ein
junger Pianist, von dem weder Vater noch Sohn gehört hatten, spielte mit
kalter Präzision. Als seien die Töne Zahlen, als seien die Suiten Rechnungen.
Ebenso kalt verbeugte er sich nach dem Konzert vor dem kleinen Publikum.
    »Hätte
er vor einem größeren Publikum mit mehr Herz gespielt?«
    »Nein,
er meint, so gehöre Bach gespielt. Wie wir Bach gerne hören, findet er
sentimental. Aber ist es nicht großartig? Keine Interpretation kann Bach etwas
anhaben, nicht einmal diese. Nicht einmal die Verwendung als Klingelton - ich
sitze in der Straßenbahn, höre ein Handy, und es ist immer noch Bach und immer
noch gut.« Der Vater redete mit Wärme. Auf der Fahrt zurück ins Hotel verglich
er Richters und Schiffs und Fellners und Goulds und
Jarretts Interpretationen der Französischen
Suiten, und der Sohn war ebenso beeindruckt von den
Kenntnissen seines Vaters wie befremdet von dem Redefluss, der ohne
Unterbrechung, ohne Vergewisserung, dass die Ausführungen auf Interesse
stießen, ohne Einladung zu einer Frage oder einem Kommentar fort- und
fortsprudelte. Ihm war, als höre er einem Selbstgespräch zu.
    Beim
Abendessen ging es so weiter. Der Vater kam von der Interpretation der Französischen Suiten auf die der Messen,
Oratorien und Passionen. Als der Sohn erst nach langer Pause vom Klo zurückkam,
war der Redefluss versiegt. Aber auch die Lebhaftigkeit, die Freude, die Wärme
des Vaters waren verschwunden. Der Sohn bestellte eine zweite Flasche Rotwein
und war vorbereitet, vom Vater eine kritische Bemerkung über Luxus und
Völlerei zu hören. Aber der Vater ließ sich

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