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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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war er
betrunken oder, wenn Alkohol und Tabletten zusammenwirkten, beinahe bewusstlos.
Nur dann war er ganz ohne Schmerzen. Sonst tat ihm immer etwas und oft der
ganze Körper weh.
    Eines
Abends stürzte er auf der Kellertreppe, war aber zu betrunken, um aufzustehen
und hochzugehen. Er setzte sich auf die Stufe und lehnte sich an die Wand und
schlief ein. Nachts wachte er auf und merkte, dass seine rechte Hand geschwollen
war und weh tat. Es war nicht der Schmerz, den er kannte, sondern ein junger,
frischer Schmerz, der bei jeder Bewegung der Hand stechend vom Gelenk bis in
die Finger fuhr. Er sagte ihm, dass die Hand gebrochen war. Er sagte ihm auch,
dass der richtige Augenblick gekommen war.
    Aber
er holte nicht den Cocktail, sondern ging in die Küche und machte Kaffee. Er
füllte ein Handtuch mit Eiswürfeln, setzte sich an den Tisch, kühlte die Hand
und trank den Kaffee. Er würde nicht selbst fahren können. Er musste eine Taxe
kommen lassen. Ihm war peinlich, wie er aussah und wie er roch, und er quälte
sich unter die Dusche und in frische Wäsche und in einen Anzug. Er rief den
Taxenbetrieb an, holte den alten Chef aus dem Bett, den er seit Jahren kannte
und der selbst kommen wollte, setzte sich auf die Terrasse und wartete. Die
Nachtluft war warm.
    Dann
liefen die Dinge von selbst. Die Taxe brachte ihn zum Krankenhaus, der Arzt gab
ihm eine Spritze und schickte ihn zum Röntgen, die Röntgenschwester machte die
Aufnahmen und schickte ihn in die Wartehalle. Er war der einzige Patient, saß
im weißen Licht der Neonröhren auf einem weißen Plastikstuhl und sah auf den
leeren Parkplatz. Er wartete und schrieb in Gedanken einen Brief an seine Frau.
    Es
dauerte eine Stunde, bis er gerufen wurde. Neben dem ersten Arzt stand ein
zweiter. Er führte das Wort und erklärte ihm die Zahl und Lage der Knochen der
Hand, welche zwei Knochen gebrochen seien, dass es weder etwas zu operieren
noch etwas zu schienen gebe, dass ein fester Verband ausreiche und dass
eigentlich alles wieder gut werden müsse. Er legte ihm den Verband an und
forderte ihn auf, sich in drei Tagen wieder sehen zu lassen. Der Empfang werde
ihm eine Taxe rufen.
    Der
alte Chef, der ihn zum Krankenhaus gefahren hatte, fuhr ihn auch wieder nach
Hause. Sie redeten über ihre Kinder. Es wurde hell, und als er ausstieg,
lärmten die Vögel wie an dem Morgen, an dem er die Pfannkuchen gebacken hatte.
Wie lange war das her? Drei Wochen?
     
    17
     
    Er
ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an die Schreibmaschine. Auf ihr
hatte er Briefe, Aufsätze und Bücher geschrieben, bis er eine Sekretärin
bekam, der er diktieren konnte. Im Ruhestand hätte er sich an den Computer gewöhnen
sollen. Aber lieber hatte er seine alte Sekretärin gebeten oder das Schreiben
eingestellt.
    Das
Schreiben auf der Maschine war ungewohnt, und beim Schreiben ohne rechte Hand
war er besonders ungeschickt. Er musste mit dem Zeigefinger Buchstaben um
Buchstaben suchen.
    »Ich
kann nicht ohne Dich. Nicht wegen der Wäsche; ich wasche, trockne und falte
sie. Nicht wegen des Essens; ich kaufe es ein und bereite es zu. Ich putze im
Haus und gieße den Garten.
    Ich
kann ohne Dich nicht, weil ohne Dich alles nichts ist. Bei allem, was ich in
meinem Leben gemacht habe, habe ich daraus gelebt, dass ich Dich hatte. Hätte
ich Dich nicht gehabt, hätte ich nichts zustande gebracht. Seit ich Dich nicht
habe, bin ich mehr und mehr und schließlich völlig verkommen. Zum Glück hatte
ich einen Unfall und bin zu Sinnen gekommen.
    Es
tut mir leid, dass ich Dir nicht alles über meine Lage gesagt habe. Dass ich
alleine geplant habe, wie ich mit dem Leben Schluss mache. Dass ich alleine
entscheiden wollte, wann ich das Leben nicht mehr aushalte.
    Du
kennst die Kassette, die ich von Vater geerbt habe. Ich werde die Flasche in
die Kassette schließen und die Kassette in den Kühlschrank stellen. Den
Schlüssel findest Du in diesem Brief; so kann ich nichts ohne Dich
entscheiden. Wenn es nicht mehr geht, entscheiden wir gemeinsam, dass es nicht
mehr geht. Ich liebe Dich.«
    Er
schloss die Flasche in die Kassette, stellte die Kassette in den Kühlschrank,
steckte den Schlüssel mit dem Brief in den Umschlag und adressierte ihn an die
gemeinsame Wohnung in der Stadt. Er passte den Briefträger ab und gab ihm den
Umschlag mit.
    Kaum
war der Briefträger gegangen, kamen ihm Zweifel. Sein Leben, sein Tod in ihrer
Hand? Was, wenn sie den Brief nicht bekam, nicht öffnete, nicht mochte? Er
hätte gerne

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