Schlink,Bernhard
Tränen kommen.
2
Er
hatte vorgehabt, eine Taxe zu nehmen und sich zu Hause noch an den Artikel zu
machen, den die Zeitung Anfang der nächsten Woche bringen wollte. Aber als er
aus dem Kino auf die Straße trat und die weiche Sommernachtluft spürte, entschloss
er sich zu gehen. Über den Platz, am Museum vorbei, am Fluss entlang - er war
erstaunt, wie belebt die Straßen waren. Ihm begegneten Touristengruppen, und
oft waren Alt und Jung gemeinsam unterwegs. Eine Gruppe von Italienern berührte
ihn besonders. Großvater und Großmutter, Vater und Mutter, Söhne und Töchter
und wohl auch noch deren Freunde und Freundinnen kamen ihm eingehakt, mit leichtem
Schritt und leise singend entgegen, sahen ihn freundlich, auffordernd,
einladend an und waren an ihm vorbei, ehe er auch nur beginnen konnte, sich zu
überlegen, was es mit der Aufforderung und Einladung auf sich haben mochte und
wie er reagieren könnte. Werde ich, fragte er sich, wenn ich Eltern und Kinder glücklich
beieinander sehe, sentimental?
Er
fragte es sich wieder, als er beim Italiener in der Nachbarschaft noch ein
Glas Wein trank. Zwei Tische weiter saßen ein Vater und ein Sohn in lebhaftem,
freundlichem Gespräch. Dann schlug seine Stimmung um; er wurde neidisch,
ärgerlich, bitter. Er konnte sich nicht an ein einziges ähnliches Gespräch mit
seinem Vater erinnern. Redeten sie lebhaft miteinander, dann stritten sie über
Politik oder Recht oder Gesellschaft. Freundlich redeten sie miteinander nur, wenn
sie Belanglosigkeiten austauschten.
Am
nächsten Morgen schlug die Stimmung noch mal um. Es war Sonntag, er frühstückte
auf dem Balkon, die Sonne schien, die Amsel sang, und die Kirchenglocken
läuteten. Er wollte nicht bitter sein. Er wollte auch nicht, dass, wenn sein
Vater starb, nichts blieb außer faden oder schlechten Erinnerungen. Als seine
Eltern aus der Kirche zurück waren, rief er sie an. Seine Mutter nahm ab, wie
immer, und wie immer stockte nach den wechselseitigen Fragen nach Aktivitäten,
Gesundheit und Wetter das Gespräch.
»Meinst
du, ich könnte Vater zu einer kleinen Reise einladen?«
Es
dauerte eine Weile, bis sie antwortete. Er wusste, dass sie weniges so sehnlich
wünschte wie ein besseres Verhältnis ihrer Kinder zu ihrem Mann. Zögerte sie,
weil sie die Freude über seine Frage nicht fassen konnte? Oder weil sie Angst
hatte, die Situation zwischen ihm und seinem Vater sei schon zu verfahren?
Schließlich fragte sie: »Was für eine kleine Reise schwebt dir vor?«
»Was
sowohl Vater als auch ich mögen, ist das Meer und ist Bachs Musik.« Er lachte.
»Fällt dir sonst noch etwas ein, das wir beide mögen? Mir nicht. Im September
gibt es ein kleines Bach-Fest auf Rügen, und ich denke an zwei bis drei Tage
mit ein paar Konzerten und ein paar Spaziergängen am Strand.«
»Ohne
mich.«
»Ja,
ohne dich.«
Wieder
zögerte seine Mutter mit der Antwort. Als gebe sie sich einen Ruck, sagte sie
schließlich: »Was für ein schöner Gedanke! Kannst du Vater einen Brief
schreiben? Ich fürchte, am Telefon fühlt er sich überfahren und reagiert abweisend.
Das tut ihm zwar bald leid. Aber warum nachträglich in Ordnung bringen, was
von vornherein brieflich besser läuft?«
3
An
einem Donnerstag im September holte er seinen Vater in der kleinen Stadt ab, in
der seine Eltern lebten und in der er aufgewachsen war. Die Zimmer im Hotel und
die Karten für die Konzerte waren gebucht. Er hatte sich gegen die größeren
Orte mit den prächtigen Häusern der Jahrhundertwende entschieden; weil sein
Vater es bescheiden mochte, würden sie in einem einfachen Hotel in einem
kleinen Dorf wohnen, dort, wo der Strand sich Kilometer um Kilometer hinzieht.
Sie würden am Freitagnachmittag die Französischen
Suiten, am Samstagabend zwei Brandenburgische Konzerte und
das Italienische Konzert und
am Sonntagnachmittag Motetten hören. Er hatte die Programme der Konzerte
ausgedruckt und gab sie seinem Vater, als sie auf der Autobahn waren. Außerdem
hatte er sich zurechtgelegt, wonach er seinen Vater auf der Fahrt fragen
wollte: nach Kindheit und Jugend und Studium und beruflichem Anfang. Das sollte
ohne Streit gehen.
»Schön«,
sagte sein Vater, als er die Programme gelesen hatte, und schwieg. Er saß
aufrecht, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme auf die Lehnen gelegt und
die Hände von den Lehnen hängend. So saß er auch zu Hause im Sessel, und so
hatte der Junge seinen Vater gesehen, als er ihn vor dem Abitur im
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